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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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Luft und versenkte die Arme in den Schlamm, bis er die harten Wurzelstränge spürte. Energisch riss er daran, doch nach einigen vergeblichen Versuchen gab er auf und beschloss, das Sägemesser, das er in der Satteltasche mit sich führte, zu Hilfe zu nehmen. Er kniete sich wieder auf den Boden und begann, unter Wasser zu arbeiten. Er zog ein paar Stümpfe hervor, die er weit von sich schleuderte, und begannan den größeren herumzusägen. Als er mit dem dicksten beschäftigt war, spürte er ein Ziehen im Finger.
    Bestimmt habe ich mich geschnitten, fuhr es ihm durch den Kopf. Obwohl er keinerlei Schmerz spürte, untersuchte er seinen Finger aufmerksam. Schuld war diese eigenartige Krankheit, mit der die Götter ihn seit seiner Geburt gestraft hatten, und die ihm an jenem Tag bewusst geworden war, als seine Mutter mit einem Topf in der Hand stolperte und ihn versehentlich mit kochend heißem Öl begoss. Er war damals erst vier Jahre alt gewesen, und er hatte nicht mehr gespürt als beim Waschen mit lauwarmem Wasser. Allein der Geruch von verbranntem Fleisch hatte ihm signalisiert, dass etwas Schlimmes geschehen sein musste. Sein Oberkörper und seine Arme sollten für immer von den Verbrennungen gezeichnet bleiben, seit dem Tag erinnerten die Narben ihn daran, dass sein Körper anders war als der der übrigen Kinder und dass er, obwohl er sich glücklich schätzte, keine Schmerzen zu empfinden, besonders darauf achten musste, sich keine Wunden zuzufügen. Da er weder Schläge spürte noch Schmerzen nach extremer physischer Anstrengung ihn anzufechten vermochten und er sich bis zum Umfallen ausbeuten konnte, übertrat er oft genug unbemerkt die Grenzen seines Körpers und wurde krank.
    Er erschrak, als er seine Hand aus dem Wasser zog – sie war blutüberströmt. Der Schnitt musste sehr tief sein, alarmiert riss er ein Tuch aus der Satteltasche. Als er die Hand jedoch getrocknet hatte, entdeckte er nichts weiter als einen kleinen blauen Fleck.
    Erstaunt, aber nicht beunruhigt machte er sich wieder an die Arbeit, dort, wo die Pflugschar sich verfangen hatte. Er bog die Wurzeln zur Seite, und dabei bemerkte er, wie sich das schlammige Wasser rot zu färben begann. Er lockerte dasGeschirr, um die Pflugschar zu lösen, und trieb seinen Büffel zur Seite. Dann blieb er reglos stehen und beobachtete das Wasser. Sein Atem ging schneller. Der Regen trommelte auf das Reisfeld und erstickte jedes andere Geräusch. Hin und her gerissen zwischen Staunen und Furcht näherte er sich langsam dem kleinen Krater, den der Pflug an der Stelle gegraben hatte, wo er steckengeblieben war. Sein Magen zog sich zusammen, als er Luftbläschen aus dem Krater aufsteigen sah, die sich mit den Blasen vermischten, die der Regen auf der Wasseroberfläche bildete. Er war drauf und dran, kehrtzumachen, doch er beherrschte sich. Vorsichtig ging er in die Hocke und näherte sein Gesicht dem Wasser. Ein neuerlicher Schwall blutiger Blasen stieg auf. Plötzlich regte sich etwas unter der Wasseroberfläche. Unwillkürlich fuhr Ci zurück, doch als er sah, dass es sich nur um einen aufgeregten kleinen Karpfen handelte, atmete er erleichtert auf.
    »Dummes Tier.«
    Er wollte einen Schritt zurücktreten, doch er rutschte aus und fiel in einem Strudel aus Schlamm, Schmutz und Blut ins Wasser, mit dem Gesicht auf einen harten Knoten aus Wurzelsträngen. Erschreckt riss er die Augen auf – was er sah, ließ ihm den Atem stocken: Vor ihm im Gestrüpp trieb, mit einem Knebel im Mund, der abgetrennte Kopf eines Mannes.
    Er zitterte am ganzen Leib und schrie, bis er heiser wurde, doch niemand kam ihm zur Hilfe. Erst nach einer Weile fiel ihm ein, dass die Parzelle seit einiger Zeit nicht bewirtschaftet wurde und dass sich die Bauern auf der anderen Seite des Berges konzentrierten. Er setzte sich einige Schritte vom Pflug entfernt auf den Boden und schaute sich um. Nichts. Niemand. Als das Zittern nachließ, überlegte er, ob er den Büffel alleine zurücklassen und hinunter ins Dorf gehen sollte, um Hilfe zu holen. Die andere Möglichkeit war,im Reisfeld darauf zu warten, dass sein Bruder wieder auftauchte. Keine der beiden Optionen überzeugte ihn wirklich, doch da Lu bald kommen musste, entschied er sich zu warten. An diesem Ort wimmelte es von Raubtieren, und ein ganzer Büffel war tausendmal mehr wert als ein verstümmelter menschlicher Kopf.
    Während er wartete, befreite er die Pflugschar von den übrigen Wurzeln. Das Gerät schien keinen Schaden genommen zu
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