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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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haben, und mit etwas Glück würde Lu ihm nur den Verzug bei der Arbeit vorwerfen. Seufzend machte er sich wieder an seine Arbeit. Er versuchte, eine Melodie zu pfeifen, um sich ein wenig abzulenken, doch in seinem Inneren hallten die Worte seines Vaters wider: ›Probleme löst man nicht, indem man ihnen den Rücken kehrt.‹
    Er pflügte zwei Schritte, bevor er den Büffel zum Stehen brachte, um an die Stelle seines schrecklichen Fundes zurückzukehren. Eine Zeitlang beobachtete er unentschlossen, wie der abgetrennte Kopf auf dem Wasser schaukelte. Dann wagte er, ihn genauer zu untersuchen. Die Wangen waren eingedrückt, als hätte jemand wütend darauf herumgetrampelt. Auf der blau verfärbten Haut entdeckte er zahlreiche kleine Bisswunden, die ihm die Karpfen zugefügt haben mussten. Die Augen waren weit aufgerissen, die Lider geschwollen. Aus dem halbgeöffneten Mund ragte der eigentümliche Lumpen, mit dem der Tote geknebelt worden war.
    Es war grauenvoll. Ci schloss die Augen und übergab sich. Er hatte erkannt, wer der Tote war: Der abgeschlagene Kopf gehörte dem alten Shang. Dem Vater von Kirschblüte, dem Mädchen, das er liebte.
    Als er sich wieder einigermaßen gefasst hatte, zwang er sich, den Toten noch einmal anzublicken: Die Gesichtszüge des alten Shang hatten sich zu einer grotesken Fratze verzogen.Vorsichtig zog Ci an dem Lappen, der sich immer weiter entfaltete und immer länger wurde. Als würde man ein Garnknäuel entwirren. Ci verstaute ihn in seinem Ärmel und versuchte, den Kiefer des Toten zu schließen, doch das Gelenk war ausgehakt und ließ sich nicht bewegen.
    Mit zitternden Händen wusch er sich das Gesicht mit dem schlammigen Wasser. Er musste den Leichnam finden, und wenn er Tage damit zubringen würde, ihn zu suchen.
    Er fand ihn schließlich am Mittag, nur wenige Li von der Stelle entfernt, an der der Büffel ins Straucheln geraten war. Den Rumpf schmückte noch die gelbe Schärpe über dem Kittel mit den fünf Knöpfen, die Shang als ehrenwerten Mann auszeichnete. Doch keine Spur von dem blauen Barett, das er immer getragen hatte.
    Es war Ci unmöglich, weiterzuarbeiten. Er setzte sich auf das Steinmäuerchen, das die Parzelle begrenzte, und starrte eine Weile ins Leere. Dann kaute er lustlos auf einem trockenen Stück Reisbrot herum, das er kaum hinunterbekam. Immer wieder betrachtete er den enthaupteten Leichnam des ehrenhaften Shang, den jemand im Schlamm zurückgelassen hatte wie einen hingerichteten Kriminellen. Er fragte sich, welche seelenlose Kreatur einem so respektablen Menschen wie Shang das Leben genommen haben konnte. Shang, der die Seinen liebte, der Traditionen und Riten in Ehren hielt. Wie sollte er das bloß Kirschblüte beibringen?
    * * *
    Es war bereits Nachmittag, als sein Bruder Lu das Feld erreichte. Er kam in Begleitung von drei Tagelöhnern, die mit Setzlingen beladen waren. Das bedeutete, dass Lu es sich anders überlegt hatte und den Reis pflanzen wollte, ohne daraufzu warten, dass das Gelände trockengelegt war. Ci ließ den Büffel los und lief ihm entgegen. Als er bei ihm anlangte, verbeugte er sich zur Begrüßung.
    »Bruder, du wirst nicht glauben, was passiert ist …« Ci schlug das Herz vor Aufregung bis zum Hals.
    »Wie sollte ich es nicht glauben, wo ich es doch mit eigenen Augen sehe«, donnerte Lu und deutete auf das weitgehend ungepflügte Feld.
    »Ich habe etwas gefunden, eine …«
    Der Hieb gegen seine Stirn kam unerwartet, er fiel hintenüber in den Schlamm.
    »Verdammter Nichtsnutz«, fauchte Lu wütend und spuckte aus.
    Ci hob die Hand an seine Augenbraue, wo aus einer pochenden Wunde Blut quoll. Es war nicht das erste Mal, dass sein Bruder ihn schlug, aber Lu war der Ältere und die konfuzianischen Regeln verboten es Ci, sich zu wehren. Er konnte das Auge kaum öffnen, dennoch entschuldigte er sich.
    »Tut mir leid, Bruder. Ich habe mich verspätet, weil …«
    »Weil dem feinen Herrn Studenten der Mumm in den Knochen fehlt!«, unterbrach ihn Lu. »Weil der feine Herr Student denkt, dass der Reis sich von alleine pflanzt!« Er trat Ci unbarmherzig in die Seite. »Weil der feine Herr Student ja seinen Bruder Lu hat, der für ihn schuftet!« Ärgerlich klopfte Lu sich die Hosen ab, dann erst gestattete er Ci, sich zu erheben.
    »Ich ha… be eine Lei… che gefunden«, stammelte Ci.
    Lu zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Eine Leiche? Was meinst du damit?«
    »Da drüben …«, sagte Ci leise.
    Lu wandte sich zu der Stelle, an der sich
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