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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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verstehen kannst.«
    Der Junge verstand nicht, was es da zu verstehen gab. Sollte er weiterhin jeden Tag die Verachtung seines Bruders Lu über sich ergehen lassen? Sollte er hinnehmen, dass seine Zukunft an der Universität von Lin’an zerstört wurde?
    »Und was wird aus unseren Plänen, Vater? Und was wird aus unseren …«
    Wie eine Sprungfeder schnellte der Vater vor und gab ihm eine Ohrfeige.
    »Unsere Pläne? Seit wann hat ein Sohn Pläne?« Seine Augen funkelten zornig. »Wir werden hier bleiben, im Haus deines Bruders! Und zwar so lange, bis ich sterbe!«
    Ci verstummte, und sein Vater zog sich zurück.
    »Und Eure kranke Tochter Mei Mei?«, rief Ci ihm nach. Seine Wut ließ ihn kühn werden. »So wenig kümmert Euch, was aus ihr wird?«
    Als er sich später auf das Bett legte, das er mit seiner Schwester teilte, spürte er sein Herz vor Verzweiflung pochen. Vondem Moment an, als sie wieder im Dorf angekommen waren, hatte er von der Rückkehr nach Lin’an geträumt. Wie jede Nacht schloss er die Augen, um sich in sein altes Leben zurückzuversetzen. Er dachte an die ehemaligen Kameraden und an die Wissenswettbewerbe, aus denen er oft als Sieger hervorgegangen war; an seine Professoren, die er wegen ihrer Disziplin und ihrer großen Bildung bewunderte. Er rief sich den Tag in Erinnerung, an dem Richter Feng ihn als Assistent für die Voruntersuchungen eingestellt hatte. Cis größter Wunsch bestand seither darin, so zu sein wie Feng, auch er wollte eines Tages die Kaiserliche Prüfung ablegen und einen Posten als Richter bekleiden – und sich nicht wie sein Vater nach vielen Jahren eifrigen Bemühens mit einer Anstellung als einfacher Beamter begnügen müssen.
    Er fragte sich,warum sein Vater nicht zurückkehren wollte. Er hatte doch gesagt, Feng habe ihm den Posten angeboten, den er sich gewünscht hatte. Wieso hatte er dann über Nacht und ohne erkennbares Motiv radikal seine Meinung geändert? Konnte sein Großvater der Grund sein? Das glaubte er nicht. Die Asche des Verstorbenen konnte man mitnehmen, um auch in Lin’an weiter die familiären Riten für ihn zu vollziehen.
    Mei Meis Husten ließ Ci hochfahren. Die kleine Schwester lag an seiner Seite im Halbschlaf, zitterte leicht und atmete schwer. Er streichelte ihr liebevoll übers Haar. Mei Mei hatte sich als widerstandsfähiger erwiesen als Erste und Zweite, denn sie war bereits sieben Jahre auf der Welt, doch genau wie ihre Schwestern würde sie wohl nicht über das zehnte Lebensjahr hinauskommen. Das war das Schicksal, das ihre Krankheit für sie bereithielt. Vielleicht hätte man in Lin’an die richtigen Heilmittel für sie zur Verfügung gehabt.
    Er schloss die Augen und drehte sich auf die andere Seite. Er dachte an Kirschblüte, die er heiraten durfte, sobald er die staatlichen Prüfungen hinter sich gebracht hatte. Im Augenblick war sie sicher wegen ihres Vaters am Boden zerstört … Ob der schreckliche Tod von Shang ihre Hochzeitspläne in Frage stellte? Er schämte sich ein wenig, dass er solch egoistische Gedanken anstellte.
    Seit dem unerwarteten Tod seines Großvaters waren sechs Monate vergangen … Er unterbrach seine Gedanken, da die Hitze nun doch begann, ihm zuzusetzen. Er stand auf, um sich zu entkleiden. In der Tasche seiner Jacke fand er wieder den blutigen Lumpen, von dem er den armen Shang befreit hatte. Er betrachtete ihn nachdenklich, dann legte er ihn neben sein Nachtlager. Durch das Fenster drang ein Stöhnen aus dem angrenzenden Haus, das Ci seinem Nachbarn Peng zuschrieb, einem kleinen Gauner, dem seit Tagen seine Backenzähne zu schaffen machten. Es war nun schon die zweite Nacht in Folge, in der er keine Ruhe fand.
    * * *
    Bereits im Morgengrauen verließ Ci das Haus. Er hatte zugesagt, sich mit Feng bei der Residenz von Bao-Pao zu treffen – wo alle Regierungsbeamten wohnten, die das Dorf besuchten –, um ihm bei der Untersuchung der Leiche zur Hand zu gehen. Als er die Tür hinter sich zuzog, drang aus dem Nebenzimmer Lus lautes Schnarchen zu ihm. Wenn der Bruder aufwachte, wäre er schon fort, dachte Ci erleichtert.
    Es hatte aufgehört zu regnen, doch die Hitze der Nacht ließ die Feuchtigkeit der Felder als Wasserdampf aufsteigen, und jeder Atemzug legte sich schwer auf seine Lungen. Mitschnellen Schritten durchmaß Ci das Labyrinth aus kleinen Gässchen, aus denen das Dorf bestand. Gleichförmige, rechteckige Hütten mit wurmzerfressenen Balken standen da wie unachtsam hingeworfene Dominosteine. Hie und da
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