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Rechtsdruck

Rechtsdruck

Titel: Rechtsdruck
Autoren: Matthias P. Gibert
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1
     
    Demet Bilgin setzte müde einen Fuß vor den anderen.
    Die Einkaufstüten, die sie schleppte, gruben tiefe Furchen in die Innenflächen
ihrer Hände. Dann hatte die knapp 50-jährige Frau die kleine Schneiderei erreicht
und ließ ihre Last erschöpft aus den Händen gleiten.
    »Wo warst du so lange?«, fragte ihr Mann, ohne von seiner Lektüre aufzublicken,
auf Türkisch. Auch nach mehr als 30 Jahren in Deutschland war es seiner Frau nicht
möglich, ein Gespräch auf Deutsch zu führen.
    »Der Metzger im Supermarkt hat sich in den Finger geschnitten und musste
erst verbunden werden. Deswegen hat es länger gedauert«, antwortete sie nach Luft
japsend.
    »Dieser Trottel. Ich sage immer, der sollte lieber kein Messer in die
Hand nehmen. Das wievielte Mal ist das in diesem Jahr?«
    Er winkte ab, ohne den Kopf zu heben. »Das zehnte mindestens. Wenn
du dorthin kommst, um etwas einzukaufen, läuft er mit einer verbundenen Hand durch
die Gegend. Dieser Mann ist eine Schande für seinen Berufsstand.«
    »Sprich doch nicht so böse, Gökhan. Der Metzger hat dir doch gar nichts
getan.«
    Nun reckte sich Gökhan Bilgin und sah seiner Frau ins Gesicht. »Natürlich
hat er mir nichts getan. Aber ich werde doch wohl noch sagen dürfen, dass er ein
Trottel ist?«
    Bevor seine Frau zu einer Erwiderung ansetzen konnte, wurde die Tür
der kleinen Werkstatt aufgeschoben und der jüngste Sohn der beiden stürmte mit einem
großen Schulranzen auf dem Rücken herein.
    »Hallo, Mama«, rief er auf Deutsch. »Was gibt es zu essen?«
    Die Frau sah ihn tadelnd an, legte die Stirn in Falten, und wollte
ihm durch die Haare fahren, bevor sie in ihrer Sprache antwortete.
    »Wasch dir erstmal die Hände. Wenn du damit fertig bist, ziehst du
dich um und fängst mit deinen Hausaufgaben an. Das Essen dauert noch eine halbe
Stunde, ich bin gerade erst vom Einkaufen nach Hause gekommen.«
    Emre, der 12 Jahre alte Junge, wich zurück und machte einen Schmollmund.
»Nicht, du bringst meine ganze Frisur durcheinander.«
    Er ließ den Schulranzen fallen und schlurfte langsam Richtung Toilette.
»Ich habe einen Bärenhunger und fest damit gerechnet, dass es schon was zu Essen
gibt.«
    »Ja, ja, womit du immer rechnest«, erwiderte sie. »Ich wünschte, du
wärst in der Schule im Rechnen auch so gut.«
    »So gut wie du in Deutsch etwa?«, frotzelte er in Anspielung auf eine
Vereinbarung, die er etwa ein Jahr zuvor mit seiner Mutter getroffen hatte. Dabei
ging es darum, dass sie ihre Deutschkenntnisse vertiefen würde, wenn er seine schlechte
Note in Mathematik verbesserte. Seinen Teil hatte er spielend erfüllt, während sie
noch keinen Schritt vorwärtsgekommen war. Oder besser, sie hatte einfach keine Anstrengungen
unternommen, auch nur ein weiteres Wort der Sprache des Landes zu erlernen, in dem
sie lebte.
    »Sei nicht frech. Geh, und mach deine Hausaufgaben, in einer halben
Stunde essen wir.«
    Gökhan Bilgin hörte zwar die Worte in seinem Rücken, doch ihr Sinn
drang nicht bis in sein Gehirn vor. Der 50-jährige Mann war schon wieder in seine
Lektüre vertieft.
     
    Im September 1974 hatte ihn der Postvorsteher in das blau gestrichene
Haus am Rand des kleinen anatolischen Dorfes gerufen, in dem er aufgewachsen war,
und ihm den Telefonhörer hingehalten. Am anderen Ende war sein Vater, der seit knapp
zwei Jahren als Gastarbeiter in Deutschland lebte. Nach dem kurzen Telefonat war
dem Jungen klar, dass er seine Großeltern und den Rest der Familie, seine Freunde,
und sein geliebtes Dorf verlassen würde. Er würde mit seiner Mutter und seinen drei
Schwestern zu seinem Vater ziehen.
    Im ersten halben Jahr dachte er mehr als ein Dutzend Male daran, wegzulaufen.
Er verstand die Sprache nicht, hatte keine Freunde, und in der Schule hänselten
ihn die deutschen Kinder. Ein Jahr später machte sich sein Vater als erster Türke
in Kassel mit einer Änderungsschneiderei selbstständig. Gökhan begann eine Lehre
in dem kleinen Betrieb, der im Souterrain des alten Backsteinhauses angesiedelt
war, wo er noch heute den immer weniger werdenden Kunden seine Dienste anbot. Im
Frühjahr 1978, ein paar Tage nach seinem 19. Geburtstag, nahm ihn sein Vater zur
Seite und erklärte ihm, dass er eine Frau für ihn ausgesucht hatte, die auch schon
auf dem Weg nach Kassel sei. Der junge Mann war zunächst entsetzt, denn er unterhielt
zu diesem Zeitpunkt eine sehr geheime und ebenso lose Verbindung zu einem deutschen
Mädchen. Die Basis dieser Liaison beruhte allerdings
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