Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
Vom Netzwerk:
Junge.
    »Ein Doppelschnitt … wie bei einem Schwein.«
    Ci betrachtete die Wunde eingehend. Unter der Stelle, an der einmal der Adamsapfel gesessen hatte, war ein glatter horizontaler Schnitt zu erkennen – ein Schnitt, wie man ihn bei Schweinen ausführte, um sie ausbluten zu lassen.Von dort lief ein weiterer Schnitt einmal um den Hals, unregelmäßiger, wie von einer Schlachtersäge. Er wollte seine Beobachtung gerade formulieren, als Feng ihn bat, zu erzählen, wie und wo er die Leiche gefunden hatte. Ci gehorchte und berichtetealles so detailliert, wie es ihm in Erinnerung geblieben war. Als er geendet hatte, blickte Feng ihn ernst an.
    »Und das alte Stück Stoff?«
    Der Lumpen, natürlich! Wie hatte er den nur vergessen können!
    »Du enttäuschst mich, Ci, ganz entgegen deiner Gewohnheit …« Der Richter schwieg einen Augenblick. »Wie du wissen solltest, ist der offene Mund weder Zeichen eines Hilferufs noch eines Schmerzensschreis, er hätte sich sonst durch die Muskelentspannung nach dem Tod geschlossen. Jemand muss ihm also vor oder unmittelbar nach seinem Tod irgendein Objekt in den Mund gesteckt haben, das dort verblieben ist, bis die Muskeln sich zusammenzogen. Was das Material des Objekts betrifft, tippe ich auf Leinen, zumindest deuten darauf die blutigen Textilreste hin, die noch zwischen seinen Zähnen hängen.«
    Ci war betroffen. Noch vor einem halben Jahr wäre ihm ein solcher Fehler nicht unterlaufen,aber die fehlende Übung hatte ihn ungeschickt und langsam werden lassen. Er biss sich auf die Lippen und griff in seinen Ärmel.
    »Ich hatte vor, ihn Euch zu geben«, entschuldigte er sich und reichte Feng das graue Stück Stoff.
    Der Richter untersuchte es gründlich. Der Stoff ähnelte in Form und Größe den Kopftüchern der Kaiserlichen Beamten und wies zahlreiche Blutflecke auf. Zufrieden markierte Feng den Lappen als Beweisstück.
    »Beende das Diktat und setze mein Siegel darunter. Dann fertige eine Abschrift für den zuständigen Richter an.«
    Mit diesen Worten verabschiedete sich Feng und verließ den Schuppen. Es hatte wieder begonnen zu regnen. Ci beeilte sich, ihm zu folgen, er holte ihn am Eingang zu den Gemächern ein, die Bao-Pao ihm zur Verfügung gestellt hatte.
    »Die Dokumente«, stammelte er.
    »Leg sie da hin, auf den Tisch.«
    »Richter Feng, ich …«
    »Gräm dich nicht, Ci. In deinem Alter konnte ich noch nicht einmal einen Tod durch Erschießen von einem Tod durch Erhängen unterscheiden.«
    Das tröstete Ci nur wenig, denn er wusste, dass es nicht stimmte. Er bewunderte den Scharfsinn dieses Mannes, seine Redlichkeit und sein Wissen. Von ihm hatte er alles gelernt, und er wünschte sich nichts sehnlicher als ihn weiter als Meister zu haben – doch wie sollte er das erreichen, wenn er in diesem Bauerndorf gefangen blieb?
    Vorsichtig erkundigte sich Ci nach der Anstellung seines Vaters, doch der Richter winkte ab.
    »Das ist eine Angelegenheit zwischen deinem Vater und mir.«
    Unschlüssig wanderte Cis Blick umher. »Es ist nur, mein Vater … Gestern Abend habe ich mit ihm gesprochen, und er hat mir gesagt … Ich dachte, wir würden nach Lin’an zurückkehren, aber jetzt heißt es …«
    Feng sah Ci an, der Junge kämpfte mit den Tränen. Er seufzte und legte seinem einstigen Schützling die Hand auf den Arm.
    »Ci, ich weiß nicht, ob ich dir das sagen sollte …«
    »Bitte, sagt es mir«, flehte Ci.
    »In Ordnung, aber du musst mir versprechen, mit niemandem darüber zu reden.« Ci nickte eifrig, während Feng sich setzte, und tief Luft holte. »Ich habe diese Reise nur euretwegen unternommen. Dein Vater hatte mir vor einigen Monaten geschrieben und mir seine Absicht mitgeteilt, wieder auf seinen Posten zurückzukehren. Doch jetzt, nachdem er mich die ganze Reise hat machen lassen, will er nichts mehr davonwissen. Ich habe versucht, ihn zu überzeugen, ich habe ihm eine bequeme Arbeitsstelle und einen großzügigen Lohn versprochen, sogar ein eigenes Haus in der Stadt … Aber er hat abgelehnt – aus mir unerklärlichen Gründen.«
    »Dann nehmt mich mit! Wenn Ihr zögert, weil ich den Lumpen vergessen habe, verspreche ich, dass ich hart arbeiten werde. Ich arbeite bis zum Umfallen, und ich werde Euch nie wieder enttäuschen! Ich …«
    »Ehrlich gesagt, Ci, du bist nicht das Problem. Du weißt, wie sehr ich dich schätze. Du bist loyal, und ich würde mich freuen, dich wieder als Assistenten zu haben. Darum habe ich mit deinem Vater über dich und deine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher