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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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wieder beruhigt hatte, drückte Ci seinen Kopf seitlich auf die Erde. Er schaute dem Tier in die panisch aufgerissenen Augen und redete ihm gut zu. Die Nüstern weiteten sich und zogen sich wieder zusammen wie ein Blasebalg. Seufzend streichelte Ci dem Tier die Schnauze, ihm war klar, dass dieser Büffel nicht mehr aufstehen würde.
    Plötzlich spürte er, wie jemand ihn an den Schultern packte. Als er sich umdrehte, erblickte er den wutschnaubenden Lu, der einen Stock über dem Kopf schwenkte.
    »Du verdammter Nichtsnutz, ist das dein Dank für meine Mühe?«
    Ci versuchte den Stock abzuwehren, der im nächsten Moment auf ihn niedersauste. Ein Brennen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
    »Steh auf, Elender.« Lu schlug erneut zu. »Ich werde dir den Verstand schon einprügeln.«
    Ci versuchte aufzustehen, da packte Lu ihn an den Haaren und schleifte ihn durch den Schlamm, bis unter das Geschirr.
    »Weißt du, wie teuer ein Büffel ist? Nein? Dann wirst du es jetzt zu spüren kriegen.«
    Er ließ den jüngeren Bruder los und trat ihn in die Seite, immer wieder.
    »Hör auf !«, schrie Ci.
    »Es ekelt dich an, auf dem Feld zu arbeiten, was? Du kannst es nicht aushalten, dass unser Vater mich bevorzugt …« Lu versuchte, das Geschirr an ihm festzumachen.
    »Vater würde dich niemals bevorzugen, nicht mal, wenn du ihm die Stiefel lecktest«, gab Ci zurück.
    »Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du mir die Stiefel lecken.«
    Ci funkelte seinen Bruder wütend an. Wie es die Regeln vorschrieben, hatte er ihm nie etwas entgegengesetzt, doch jetzt war der Moment gekommen, ihm zu zeigen, dass er nicht sein Sklave war. Er rappelte sich auf die Beine und schlug Lu mit aller Kraft in den Magen. Damit hatte Lu nicht gerechnet, überrascht taumelte er unter dem Schlag. Doch dann holte er gleich zum Gegenschlag aus – Ci fiel zu Boden. Lu war schwerer und größer als Ci, das Einzige, in dem er den jüngeren Bruder nicht übertraf, war der Hass, der mit einem Mal in Ci brodelte. Lu begann auf ihn einzutreten, doch Ci spürte keinen Schmerz. Seine Schläfen pochten, sein ganzer Körper brannte, Regen wusch ihm das Blut aus dem Gesicht. Er glaubte zu hören, wie sein Bruder ihn als Aussätzigen beschimpfte, dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er verlor das Bewusstsein.
    * * *
    Feng betrachtete nachdenklich den toten Shang, als Ci auftauchte. Der Junge sah aus wie ein Gespenst, das sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte.
    »Bei allen Göttern, Ci! Was ist denn mit dir passiert?« Entsetztstreckte der Richter seine Arme aus und half seinem Schützling, sich auf eine Matte zu legen. Ci konnte ein Auge kaum öffnen, auf der Wange klaffte eine Wunde.
    »Man hat dich gezeichnet wie ein Maultier«, bemerkte Feng, während er Cis Brust freilegte. Er erschrak, als er das Hämatom auf dem Brustkorb sah. Die Rippen schienen jedoch nicht gebrochen. »War das Lu?«
    Ci verneinte, nur mehr halb bei Bewusstsein.
    »Lüg nicht. Dieser verdammte Mistkerl! Dein Vater hat gut daran getan, ihn auf dem Land zurückzulassen.«
    Der Richter entkleidete Ci vollständig und inspizierte die übrigen Verletzungen. Er seufzte erleichtert, als er feststellte, dass der Puls seines Schützlings regelmäßig war, trotzdem schickte er seinen Assistenten nach dem örtlichen Heiler. Kurze Zeit später tauchte ein zahnloser Alter auf, der Kräuter und einige Medizinfläschchen bei sich trug. Das Männlein untersuchte Ci eingehend, rieb ihn mit Salben ein und flößte ihm einen Trank ein. Als er mit seiner Behandlung fertig war, zog er Ci trockene Kleidung an und verordnete absolute Ruhe für den Patienten.
    Nach einer Weile kam Ci wieder zu sich. Mühsam richtete er sich auf und schaute sich im Halbdunkel um. Mit einem leichten Schaudern stellte er fest, dass er den Raum mit dem toten Shang teilte. Draußen regnete es, doch die Hitze hatte ihr Zersetzungswerk an dem Leichnam bereits begonnen – der Gestank, der von dem Toten ausging, war unerträglich, und ein Schwarm Fliegen kreiste geschäftig über dem getrockneten Blut an Shangs Kehle.
    »Wie geht es dem Auge?«, fragte Feng.
    Ci fuhr zusammen. Er hatte Fengs Gegenwart nicht gespürt, der nur einige Handbreit von ihm entfernt auf dem Boden saß.
    »Ich weiß nicht. Ich spüre nichts.«
    »Es scheint, als würdest du es gut überstehen. Du hast keine Brüche und …« Ein naher Donnerschlag unterbrach die Worte des Richters. »Bei der Großen Mauer! Die Götter des Himmels sind wirklich
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