Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)

Titel: Joseph und seine Brüder: Vier Romane in einem Band (Fischer Klassik Plus) (German Edition)
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
VORSPIEL
HÖLLENFAHRT
    1
    Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?
    Dies nämlich dann sogar und vielleicht eben dann, wenn nur und allein das Menschenwesen es ist, dessen Vergangenheit in Rede und Frage steht: dies Rätselwesen, das unser eigenes natürlich-lusthaftes und übernatürlichelendes Dasein in sich schließt und dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das A und das O all unseres Redens und Fragens bildet, allem Reden Bedrängtheit und Feuer, allem Fragen seine Inständigkeit verleiht. Da denn nun gerade geschieht es, daß, je tiefer man schürft, je weiter hinab in die Unterwelt des Vergangenen man dringt und tastet, die Anfangsgründe des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung, sich als gänzlich unerlotbar erweisen und vor unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitenlänge wir seine Schnur auch abspulen, immer wieder und weiter ins Bodenlose zurückweichen. Zutreffend aber heißt es hier »wieder und weiter«; denn mit unserer Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel: es bietet ihr Scheinhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun, wie es dem Küstengänger ergeht, der des Wanderns kein Ende findet, weil hinter jeder lehmigen Dünenkulisse, die er erstrebte, neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken.
    So gibt es Anfänge bedingter Art, welche den Ur-Beginn der besonderen Überlieferung einer bestimmten Gemeinschaft, Volkheit oder Glaubensfamilie praktisch-tatsächlich bilden, so daß die Erinnerung, wenn auch wohl belehrt darüber, daß die Brunnenteufe damit keineswegs ernstlich als ausgepeilt gelten kann, sich bei solchem Ur denn auch national beruhigen und zum persönlich-geschichtlichen Stillstande kommen mag.
    Der junge Joseph zum Beispiel, Jaakobs Sohn und der lieblichen, zu früh gen Westen gegangenen Rahel, Joseph zu seiner Zeit, als Kurigalzu, der Kossäer, zu Babel saß, Herr der vier Gegenden, König von Schumir und Akkad, höchst wohltuend dem Herzen Bel-Marudugs, ein zugleich strenger und üppiger Gebieter, dessen Bartlöckchen so künstlich gereiht erschienen, daß sie einer Abteilung gut ausgerichteter Schildträger glichen; – zu Theben aber, in dem Unterlande, das Joseph »Mizraim« oder auch »Keme, das Schwarze«, zu nennen gewohnt war, seine Heiligkeit der gute Gott, genannt »Amun ist zufrieden« und dieses Namens der dritte, der Sonne leiblicher Sohn, zum geblendeten Entzücken der Staubgeborenen im Horizont seines Palastes strahlte; als Assur zunahm durch die Kraft seiner Götter und auf der großen Straße am Meere, von Gaza hinauf zu den Pässen des Zederngebirges, königliche Karawanen Höflichkeitskontributionen in Lapislazuli und gestempeltem Golde zwischen den Höfen des Landes der Ströme und dem Pharaos hin und her führten; als man in den Städten der Amoriter zu Beth-San, Ajalon, Ta’anek, Urusalim der Aschtarti diente, zu Sichem und Beth-Lahama das siebentägige Klagen um den Wahrhaften Sohn, den Zerrissenen, erscholl und zu Gebal, der Buchstadt, El angebetet ward, der keines Tempels und Kultus bedurfte: Joseph also, wohnhaft im Distrikte Kenana des Landes, das ägyptisch das Obere Retenu hieß, in seines Vaters von Terebinthen und immergrünen Steineichen beschattetem Familienlager bei Hebron, ein berühmt angenehmer Jüngling, angenehm namentlich in erblicher Nachfolge seiner Mutter, die hübsch und schön gewesen war, wie der Mond, wenn er voll ist, und wie Ischtars Stern, wenn er milde im Reinen schwimmt, außerdem aber, vom Vater her, ausgestattet mit Geistesgaben, durch welche er diesen wohl gar in gewissem Sinne noch übertraf, – Joseph denn schließlich (zum fünften- und sechstenmal nennen wir seinen Namen und mit Befriedigung; denn um den Namen steht es geheimnisvoll, und uns ist, als gäbe sein Besitz uns Beschwörerkraft über des Knaben zeitversunkene, doch einst so gesprächig-lebensvolle Person) – Joseph für sein Teil erblickte in einer südbabylonischen Stadt namens Uru, die er in seiner Mundart »Ur Kaschdim«, »Ur der Chaldäer« zu nennen pflegte, den Anfang aller, das heißt: seiner persönlichen Dinge.
    Von dort nämlich war vor längeren Zeiten – Joseph war sich nicht immer ganz im klaren darüber, wie weit es zurücklag – ein sinnender und innerlich beunruhigter Mann nebst seinem Weibe, die er aus Zärtlichkeit wohl gern seine »Schwester« nannte, und anderen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher