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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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wütend!«
    »Auf mich sind sie das schon lange«, klagte Ci.
    Feng half ihm auf die Beine, während der Donner erneut durch den Raum grollte.
    »Bald wird Shangs Familie mit den Alten des Dorfes eintreffen. Ich habe sie zusammengerufen, um ihnen die Ergebnisse meiner Untersuchungen mitzuteilen.«
    »Richter Feng, ich kann nicht in diesem Dorf bleiben. Bitte, nehmt mich mit nach Lin’an.«
    »Ci, verlange nichts Unmögliches von mir. Du musst deinem Vater gehorchen und …«
    »Aber mein Bruder wird mich umbringen …«
    Die Ankunft der Angehörigen Shangs ließ Ci verstummen. Auf den Schultern trugen sie einen mit Zeichnungen geschmückten Holzsarg. Der Vater führte die Prozession an, ein alter Mann, am Boden zerstört über den Verlust seines Sohnes, der doch ihn nach seinem Tod hätte in Ehren halten sollen. Dem Alten folgten die übrigen Verwandten und einige Nachbarn. Sie stellten den Sarg neben dem Leichnam ab und stimmten einen Klagegesang an. Als sie geendet hatten, postierten sie sich zu den Füßen des Verstorbenen, anscheinend unberührt von dem Gestank, den er verströmte.
    Feng begrüßte sie, und jeder Einzelne verneigte sich. Der Richter räusperte sich und verscheuchte die Fliegen, die um Shangs Kehle kreisten, doch die Insekten kehrten immer wieder zu ihrem Festgelage zurück, sobald der Mann aufhörte zu wedeln. Schließlich ordnete Feng an, dass die Wunde mit einem Tuch abgedeckt werden solle. Dann nahm erin dem Sessel Platz, den sein mongolischer Assistent hinter einem schwarzlackierten Tisch für ihn bereitgestellt hatte.
    »Verehrte Mitbürger, wie ihr bereits wisst, wird an diesem Nachmittag der Richter eintreffen, den die Präfektur von Jianningfu schickt. Trotzdem und in Übereinstimmung mit den Wünschen der Familie wurde ich gebeten, erste Untersuchungen in dem Fall anzustellen. Ich werde mir die protokollarischen Formalitäten daher sparen und direkt zur Sache kommen.«
    Ci hielt sich ein wenig im Hintergrund und lauschte den Worten des Richters. Er bewunderte Fengs Wissen und die Weisheit, mit der er es einsetzte.
    »Wie allgemein bekannt ist«, fuhr Feng fort, »hatte Shang keine Feinde, und trotzdem wurde er brutal ermordet. Was kann das Motiv sein? Für mich handelt es sich, ohne Zweifel, um einen Raubmord. Seine Witwe, eine als ehrenwert und gesetzestreu geachtete Frau, bestätigt, dass der Verstorbene im Augenblick seines Verschwindens dreitausend Qian bei sich hatte, aufgefädelt auf eine Kordel, die er am Gürtel trug. Der junge Ci, der uns bereits heute Morgen eine Kostprobe seines Scharfsinns gegeben hat, indem er die Schnitte am Hals des Ermordeten identifizierte, sagt aus, dass Shang, als er ihn fand, kein Geld bei sich trug.« Feng stand auf und verschränkte die Arme, während er vor den Bauern auf und ab ging, die seinem Blick auswichen. »Ci, von dessen Ehrlichkeit ich überzeugt bin, und der nach meiner Weisung arbeitet, war auch derjenige, der den Stoff, mit dem der Tote offenbar geknebelt worden war, sicherstellte. Ich habe den Lumpen als Beweisstück klassifiziert und nummeriert.« Er zog den Stoff aus einem Kästchen und entfaltete ihn vor den Augen der Anwesenden.
    »Gerechtigkeit für meinen Mann!«, rief die Witwe zwischen erstickten Schluchzern.
    Feng nickte stumm. Nach einem kurzen Schweigen setzte er seine Ausführungen fort.
    »Auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als handle es sich um ein gewöhnliches blutbeflecktes Leintuch … Aber wenn wir die Flecke eingehender betrachten, bemerken wir, dass alle einem auffälligen runden Muster folgen.«
    Die Anwesenden begannen darüber zu tuscheln, was diese Entdeckung wohl zu bedeuten hatte. Auch Ci stellte sich diese Frage, doch bevor er eine Antwort darauf fand, sprach Feng weiter.
    »Ich möchte euch nun den Weg zu den Schlüssen darlegen, die ich gezogen habe.« Er rief seinen Assistenten herbei. »Ren!« Der junge Mongole trat vor, in den Händen hielt er ein Küchenmesser, eine Sichel, ein Gefäß mit gefärbtem Wasser und zwei Tücher. Er beugte sich vor und stellte die Objekte vor Feng ab. Der Richter nahm das Küchenmesser zur Hand und tauchte es in das gefärbte Wasser, um es dann mit einem der Tücher zu trocknen. Dasselbe wiederholte er mit der Sichel. Dann präsentierte er das Ergebnis.
    Ci beobachtete die Demonstration aufmerksam. Die Spuren, die das Messer auf dem Tuch hinterlassen hatte, unterschieden sich deutlich von den Flecken, die nun beim Trocknen der Sichel entstanden und deren
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