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Der Totenleser

Der Totenleser

Titel: Der Totenleser
Autoren: Antonio Garrido
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Zukunft gesprochen, aber ich bin gegen eine Mauer gelaufen. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, aber es war nichts zu machen. Es tut mir leid.«
    »Ich … ich …« Ci wusste nicht, was er sagen sollte.
    In der Ferne war ein Donnergrollen zu hören. Feng tätschelte ihm den Rücken.
    »Ich hatte große Pläne für dich, Ci. Ich hatte dir sogar einen Platz an der Universität von Lin’an reserviert.«
    »An der Universität von Lin’an?« Cis Augen weiteten sich. Es war sein großer Traum, an die Universität zurückzukehren.
    »Hat dir dein Vater das nicht gesagt? Ich dachte, das hätte er dir erzählt.«
    Mit einem Mal wich alle Farbe aus Cis Gesicht, ihm wurden die Knie weich, und er verstummte. Er fühlte sich betrogen, betrogen um seine Zukunft, betrogen von seinem eigenen Vater.
3
    Richter Feng teilte Ci mit, dass er einige Nachbarn vernehmen würde, also trennten sich ihre Wege bis zum Nachmittag. Ci nutzte die Pause, um nach Hause zurückzukehren. Er wollte Kirschblüte besuchen, doch zuvor musste er seinen Vater um Erlaubnis bitten, dafür die Arbeit zu versäumen.
    Nachdem er sein Schicksal in die Hand der Götter gelegt hatte, betrat er das Haus. Er überraschte seinen Vater dabei, wie er in einigen Dokumenten blätterte, die ihm bei Cis Anblick aus der Hand fielen. Rasch sammelte er sie wieder ein und verstaute sie in einer rotlackierten Kiste.
    »Darf man erfahren, was du hier machst? Du solltest beim Pflügen sein!«, rief er. Er verschloss die Kiste und schob sie unter das Bett.
    Ci erzählte ihm von seiner Absicht, Kirschblüte zu besuchen, doch der Vater zeigte sich nicht begeistert.
    »Bei dir kommt immer das Vergnügen vor der Arbeit«, sagte er.
    »Aber Vater …«
    »Sie wird auch morgen noch da sein, glaub mir. Ich weiß nicht, warum ich auf deine Mutter gehört habe, dich mit einem Frauenzimmer zusammenzubringen, das mehr Unruhe stiftet als ein Wespennest.«
    Ci schluckte.
    »Ich bitte Euch, Vater. Nur einen Moment. Danach pflüge ich fertig und helfe Lu beim Mähen.«
    »Danach, danach … Sogar der Büffel deines Bruders ist arbeitswilliger als du. Danach … Wann soll das sein, ›danach‹?«
    »Warum sprecht Ihr so zu mir, Vater? Warum seid Ihr so ungerecht?«
    Der Vater antwortete nicht.Wie alle wusste auch er nur zu gut, dass in den letzten sechs Monaten Ci es gewesen war und nicht Lu, der bei der Reisernte geschuftet hatte. Dass Ci sich um die Pflege der Setzlinge in den Gewächshäusern gekümmert hatte, dass seine Hände voller Schwielen waren vom Ernten, Dreschen, Sieben und Sortieren, dass er es gewesen war, der von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang gepflügt, planiert, umgepflanzt und gedüngt hatte und der sich im Schweiße seines Angesichts an den Pumpen abgemüht und die Säcke hinunter zum Fluss und zu den Booten getragen hatte. Alle in diesem verdammten Dorf wussten, dass er sich auf den Feldern abgearbeitet hatte, während Lu sich mit seinen Huren betrank.
    Er verfluchte sein Gewissen, das ihm gebot, seinem Vater zu gehorchen, und ging seine Sichel und seinen Beutel holen. Er fand die Hülle, aber die Sichel war verschwunden.
    »Nimm meine, Lu hat deine mitgenommen«, erklärte der Vater.
    Ci widersprach nicht. Er steckte sie in seinen Sack und machte sich auf zum Feld.
    Ci prügelte den Büffel, bis er schrie, doch Ci kannte an diesem Tag keine Gnade. Er klammerte sich am Pflug fest, um ihn so tief wie möglich in den Boden zu drücken, während sich aus einem Sturmhimmel ein unendlicher Regenschleier auf das Feld ergoss. Auf jede Furche folgte eine Serie von Verwünschungen, Mühen und Hieben. Ci spürte die Kühle des Regens nicht, der immer dichter fiel. Erst als es donnerte, hielt der Junge einen Moment inne. Der Himmel war so schwarz wie der Schlamm, in dem er stand. Das Grollen wurde immer bedrohlicher, und auf jeden Donnerschlag folgte ein Blitz. Und noch einer. Der Büffel machte einen ängstlichenSatz nach vorn, doch der Pflug blieb in der Furche stecken, und das Tier stürzte. Ci versuchte, den verzweifelt strampelnden Büffel zum Aufstehen zu bewegen, doch es gelang ihm nicht. Er ließ die Zügel los und versetzte ihm einige Hiebe, doch das Tier hob nur den schweren Kopf. Da entdeckte Ci, dass es einen offenen Bruch am Hinterbein hatte.
    »Oh, ihr Götter, was habe ich getan, um euch zu erzürnen?«
    Er zog einen Apfel aus seinem Beutel und hielt ihn dem Büffel unter die Schnauze, doch der wehrte ihn mit den Hörnern ab und stöhnte schmerzvoll. Als er sich
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