Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
Z wei Schüsse, flach und scharf, sehr schnell hintereinander schmetternde Detonationen, Echos, in einen einzigen Knall gejagt in der Lautstärke von Hammerschlägen, die mit aller Kraft gegen ein frei hängendes Blech donnern, dann widerspricht die Erinnerung, schneidet ein Stück Zeit heraus und dehnt es quälend: Mauritz senkte den Kopf, als die erste Kugel ihn in die Brust traf, die Wunde war ein pfenniggroßer Punkt neben dem Brustbein, der sich langsam ausbreitete, langsam, wie Mauritz den Kopf hob, um mich anzustarren, überrascht, grenzenlos überrascht, mit einem sonderbar freimütigen, fast erleichterten Ausdruck im Gesicht, als ich zum zweiten Mal abdrückte, der zweite Schuß traf ihn unter dem Auge und zerriß sein Gesicht, ich hatte nicht dorthin gezielt, ich erinnere mich an die Kälte des brünierten Metalls in meiner Hand, das kalte helle Klirren der ausgeworfenen Patronenhülsen auf dem Betonboden der Lagerhalle in der stillgelegten Fabrik für Eierteigwaren, sehe die Pistolenmündung in die Mitte von Mauritz’ dunklem Mantel gerichtet, ich wunderte mich, Herr Verteidiger, daß ich sowenig Gewalt über die Waffe hatte, wunderte mich im selben Moment schon über diesen Gedanken, pervers, an so etwas zu denken, jetzt, du hast einen Menschen erschossen und wunderst dich darüber, wieso die Pistole in deiner Hand macht, was sie will und nicht das, was du willst, vielleicht war das eine Reaktion, um alles in den Traum, den Albtraum zurückzuholen, in denes gehörte, gehören mußte; absurd, eine Szene aus einem Film in der Wirklichkeit zu erleben und sie wieder in einen Film verwandelt zu erinnern, ich weiß noch, daß ich nicht glaubte, was ich sah, und daß mein Gehirn nach einer Wirklichkeit suchte, die mir diese als bösen Traum auflöste: das Licht in der Halle, kühl und eigentümlich unberührt von der rapid näher lodernden Hitze, alte Sperrholzkisten, das zerkratzte, schmutzige Orange ausrangierter Palettenheber, Mauern mit gelb-schwarz gestreiften Stahlkanten, Manuela, die reglos stand und nicht schrie, und Mauritz, der wie von einer Faust getroffen nach hinten taumelte, ein Mensch, den ich zu einer stummen Puppe gemacht hatte, jetzt, in diesem Moment, in Wirklichkeit, nicht in einem bösen Traum, seine Arme schlenkerten herab, waren nicht erhoben wie sonst, wenn jemand fällt und sich abzustützen versucht, verschmierte, unter einem Leck im Hallendach naß gewordene Pizzaverpackungen, es war nicht rückgängig zu machen, das war meine erste, absurde, bestürzende, noch ganz und gar unbegriffene Empfindung, ich würde nicht aufwachen aus diesem intensiven, dennoch geträumten Brandgeruch und dem Gefühl, wie leicht es gewesen war, mechanisch zu reagieren, ohne die so oft von Menschen, die auf andere Menschen geschossen haben, geschilderten Skrupel, aber sofort danach wehrte sich etwas in mir: All das stimmte nicht, konnte gar nicht stimmen, nein, das hatte etwas von einem Spiel, einem Film eben, und Mauritz würde gleich wieder aufstehen, mit einem Lächeln im gräßlich zugerichteten Gesicht, einen zerplatzten Farbbeutel unter dem Mantel hervorziehen, und ein Regisseur würde Schnitt oder Gut gemacht, Jungs, Szene im Kasten rufen; es war so leicht gewesen zu schießen, so unwirklich, aber Mauritz stand nicht wieder auf, es war kein Traum, ich hatte einen Menschen erschossen
    R ot: Die Sterbenden sehen diese Farbe zuletzt, hatte ich zu Jost gesagt, er blieb oft am längsten auf Station, um Medizin zu treiben, wie er sagte, sich nach dem Papierkrieg um die Patienten zu kümmern, – Und die Neugeborenen zuerst, hatte er ergänzt, – Typisch Arzt, dachte ich, nichts vergessen wollen und alles abwägen, – Typisch Wiggo, hätte er wohl mit einem nachsichtig-spöttischen Ausdruck in den Augen geantwortet, die von einem sehr hellen Braun waren und im Licht durchsichtig wurden wie die Kandiszucker-Prismen in den Cafés von Nizza in meiner Kindheit, nachdem man sie in den Tee getaucht hatte – Typisch Wiggo: die Welt in ein Wort zwingen müssen
    – Unruhe, hatte er wiederholt, ein nachdenklicher Unfallchirurg, dachte ich, als er sich abwandte und aus dem Fenster starrte, Unruhe, aber was sollen wir tun, – Ich weiß es nicht, antwortete ich, suchte nach der angerissenen Gauloises-Packung, Rauchen verboten im kleinen Zimmer am Ende des Flurs, das sie mir gegeben haben, weil Vater es zahlen kann, Kräne drehten sich vor dem Fenster des Bettenhauses der Charité, Gerüstbauer zogen im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher