Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tote im Schnee

Der Tote im Schnee

Titel: Der Tote im Schnee
Autoren: Kjell Eriksson
Vom Netzwerk:
schnell«, sagte sie und räusperte sich.
    »Kommen Sie herein!«
    Der Flur war lang, schmal und dunkel. Eine Menge Schuhe und Stiefel lagen gleich hinter der Tür. Beatrice zog die Jacke aus und mußte sich selber nach einem Kleiderbügel umsehen, während Berit vollkommen passiv neben ihr stand. Beatrice drehte sich um und versuchte ein Lächeln, das ihr jedoch mißlang.
    Berits Gesicht war ausdruckslos. Wortlos gingen sie in die Küche. Berit zeigte auf einen Stuhl, blieb selber aber an die Arbeitsplatte gelehnt stehen. Sie war ungefähr Mitte Dreißig. Ihr ursprünglich helles Haar war braunrot gefärbt, Mahagoni, schätzte Beatrice, und zu einem schlampigen Pferdeschwanz gebunden. Links schielte die Frau ein ganz klein wenig. Ihre Hände umklammerten die Arbeitsplatte. Sie war ungeschminkt, und ihr Gesicht wirkte nackt. Sie war sehr müde.
    »Ich nehme an, Sie sind Berit Jonsson. Ich habe gesehen, daß auf der Tür auch ein Justus steht. Ist das Ihr Sohn?«
    Berit Jonsson nickte.
    »Er ist der Junge von John und mir.«
    »Ist er zu Hause?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Sie haben John als vermißt gemeldet«, sagte Beatrice und wußte einen Moment lang nicht, wie sie weitermachen sollte, obwohl sie es im stillen vorher durchgegangen war.
    »Er wollte gestern nachmittag nach Hause kommen, gegen vier, aber er ist nicht gekommen.«
    Bei »nicht« begann sie zu zittern. Sie löste eine Hand von der Arbeitsplatte und fuhr sich über das Gesicht.
    Beatrice fand sie trotz ihrer Angst schön, trotz der großen dunklen Ringe unter den Augen und der starren, erschöpften Gesichtszüge.
    »Es tut mir sehr leid, aber ich muß Ihnen mitteilen, daß John nicht mehr unter uns ist. Wir haben ihn heute morgen tot aufgefunden.«
    Berits Hand erstarrte im Gesicht, so als wollte sie sich verstecken, nicht hören, nicht sehen, aber Beatrice erkannte, daß sie langsam begriff. Es zuckte um ihre Augen, die Pupillen weiteten sich, und Berit schluckte. Beatrice stand auf und nahm Berits Hand in ihre. Jetzt war die Hand der Frau eiskalt.
    »Es tut mir sehr leid«, wiederholte die Polizistin, »aber John ist von uns gegangen.«
    Berit blickte forschend in das Gesicht der Polizistin, wie um zu ergründen, ob dort noch eine Spur Ungewißheit zu erkennen war. Sie zog ihre Hand wieder zurück, legte sie vor den Mund, und Beatrice wartete auf einen Schrei, der jedoch nicht kam.
    Beatrice schluckte. Sie sah den verstümmelten, grün und blau geprügelten und verbrannten Körper des kleinen John vor sich, niedergetrampelt in eine Wehe schmutzigen Schnees.
    Berit schüttelte den Kopf, erst fast unmerklich, dann immer kraftvoller. Sehr langsam öffnete sie den Mund, und ein Speichelfaden lief aus ihrem Mundwinkel. Beatrices Worte setzten sich fest, bohrten sich tief in das Bewußtsein der Frau. Berit erstarrte, nicht ein Muskel bewegte sich, sie schottete sich ab, während sie die Nachricht verarbeitete, daß ihr John nie mehr nach Hause kommen, sie nie mehr umarmen, nie mehr diese Küche betreten würde.
    Sie wehrte sich nicht, als Beatrice sie an den Schultern faßte, zu einem Stuhl am Fenster führte und sich selber an die andere Seite des Tischs setzte. Beatrice ertappte sich dabei, daß sie hastig registrierte, was alles auf dem Tisch stand: eine Azalee, die zu wenig Wasser bekommen hatte, die Tageszeitung, ein Adventskranz mit drei zur Hälfte abgebrannten Kerzen sowie ein Messer und eine Gabel, über Kreuz auf einem leeren Teller.
    Beatrice beugte sich über den Tisch, ergriff von neuem die Hand der Frau und drückte sie sachte. Dann kam eine Träne, eine einzige, die Berits Wange hinablief.
    »Können wir jemanden anrufen?«
    Berit wandte ihr Gesicht Beatrice zu. »Wie?« fragte sie heiser und flüsternd.
    »Er ist ermordet worden«, sagte Beatrice leise, so als wolle sie sich Berit anpassen.
    Der Blick, der sie traf, erinnerte sie an die Schlachtung eines Schafs, die sie als Kind einmal erlebt hatte. Ein Mutterschaf sollte zum Schlachthof transportiert werden. Es wurde blökend aus seiner Box auf den Hof hinausgeführt. Es war widerspenstig, wurde jedoch von Beatrices Onkel beruhigt.
    Der Blick des Mutterschafs in diesem Moment, in der Zehntelsekunde, bevor es sich wieder beruhigte, das Weiß der Augen, die es verdrehte, der verletzte Ausdruck, nicht angstvoll, eher fragend. Es war ihr damals so vorgekommen, als fände die Angst keinen Platz, obwohl der Hof so groß war.
    »Ermordet«, murmelte Berit.
    »Können wir jemanden anrufen?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher