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Der Tote im Schnee

Der Tote im Schnee

Titel: Der Tote im Schnee
Autoren: Kjell Eriksson
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spürte, daß seine Kräfte schwanden. Er rutschte bereits nach unten. Lennart drehte den Kopf und sah, daß sich in der gegenüberliegenden Fassade Blaulichter spiegelten.
    Anschließend wandte er den Kopf zum First, und sein Blick fiel auf das verschneite Schneefanggitter einen guten halben Meter vom Fuß des Dachs entfernt.
    »Ich bin der älteste Sohn des Dachdeckers«, murmelte er.
    »Ich bin der Sohn des Dachdeckers.« Er wußte, daß dies seine einzige Chance war, warf die rechte Hand hoch, erreichte das Gitter, streckte die linke aus und fand auch mit ihr Halt. Langsam, ganz langsam zog er sich hoch. Er murmelte vor sich hin, schluckte Schnee, spürte den Blutgeschmack im Mund, besiegte jedoch das Dach, erreichte das Gitter und konnte ein wenig verschnaufen.
    »Der Sohn des Dachdeckers«, schrie er triumphierend.
    Er hatte einen Krampf im Bein, fror und zitterte, aber er hatte es bis aufs Dach geschafft. Er dachte, daß sein Vater stolz auf ihn gewesen wäre, und schaute in den wolkenverhangenen Himmel hinauf.
    »Albin«, sagte er und lächelte. »Papa, Papa.«
    Er sah hinunter und bekam Höhenangst. Ihm wurde schwindlig, und er preßte sich mit dem Bauch gegen das Dach. Seine Knie, die auf dem Gitter ruhten, taten ihm weh. Ein kräftiger Windstoß wirbelte eine Wolke aus pulvrigem Schnee auf. Dennoch erschien es Lennart, als hätte der Wind ihm Ruhe gebracht. Er drehte erneut den Kopf und betrachtete die Lichter der Stadt. Es schneite nicht mehr so stark, und er konnte das Schloß und die Türme des Doms erkennen.
    »Da drüben bist du gestorben, Papa«, sagte er.
    Als er etwas weiter nach Süden blickte, sah er Almtuna, das Viertel, in dem er aufgewachsen war. Haus für Haus, Dach für Dach. Menschen, die das Weihnachtsfest vorbereiteten.
    Seine Höhenangst klang immer mehr ab und wich dem Gefühl, über allem zu stehen. Bis hierher hatte er es geschafft. Es gab schlechtere Orte. Es paßte ihm nicht, auf dem Bauch zu liegen, weil es ihm feige vorkam, so als würde er sich unterwerfen, als könnte jeden Moment jemand einen Fuß in seinen Nacken setzen. Also drehte er sich um, streckte sich und richtete sich auf. Er mußte lachen.
    »Ich sitze auf einem Dach«, schrie er gegen den Wind.
    Er stellte sich breitbeinig auf das Schneefanggitter, versuchte sich gegen die Windböen zu stemmen und schrie seinen Haß über die Stadt hinaus, in der er geboren worden war, beruhigte sich jedoch unvermittelt wieder. Hör auf, so zu grölen, dachte er.
    Er hätte diese Worte zu Berit sagen sollen. Sie war die einzige, die etwas weitergeben, die Justus erzählen konnte, daß John und Lennart die Jungen des Dachdeckers waren, daß sie gemeinsam gelacht hatten, daß es Momente des Glücks gegeben hatte. Sie konnte auch die düsteren Kapitel ansprechen, von ihrer kleinen Schwester erzählen, Justus vielleicht Fotos von ihr zeigen.
    Er hatte einen unbekannten Mann getötet und war jetzt dazu verdammt, für immer zu fliehen. Sogar das einfachste von allem, seine Rache, hatte er vermasselt. Er spuckte gegen den Wind. Aber er hatte den Mann getötet, der Berit umbringen wollte. Lennart zitterte vor Kälte. Sollte er zu Berit zurückklettern und ein einziges Mal in seinem Leben über etwas Lebenswichtiges sprechen?
    Der Wind wehte über den First, am Schornstein vorbei und heulte in den Ritzen und Dachblechen.
    »Mein kleiner Bruder«, sagte Lennart, schwankte, kippte nach vorn, schlug mit Wucht auf die Dachziegel und stürzte, sich überschlagend, über die Dachkante.
    Auf der Straße stand Ola Haver und sah ihn fallen. Er hörte den Schrei und hob instinktiv die Hand, als wollte er so den Sturz aufhalten. Im gleichen Moment schlug der Körper auf der gefrorenen Erde auf.
    Die Blaulichter der Streifenwagen flackerten, und in den Fenstern auf der anderen Straßenseite, zwischen Amaryllis und Weihnachtssternen, standen Menschen und sahen hinaus.
    Die Erde war weiß und Lennarts Blut rot. Für einen Moment war es vollkommen still in der Straße. Berglund trat einen Schritt näher an den Körper heran, der unnatürlich gekrümmt im Schnee lag, und nahm seine Mütze ab.
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