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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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Verschnaufen auf die Bank vor dem Stall und blickte aufs Dorf hinunter.
    Vor dem Gamander gab es eine kleine Menschenansammlung. Er stand auf und holte den Feldstecher vom Haken.
    Ein paar Minuten später stand er am alten Wandtelefon in der Küche. Er hatte seine runde Stahlbrille aufgesetzt, die ihm ein seltsam intellektuelles Aussehen verlieh, und las eine Nummer von einem Bierdeckel.
    Für sein Übergewicht und seine dreißig Zigaretten war Manuel erstaunlich gut in Form. Er war die erste halbe Stunde hinter ihr hergegangen und hatte sie dann überholt mit der Erklärung, daß er bei seinem eigenen Tempo nicht so schnell ermüde. Seither ging er voraus, sah sich ab und zu nach ihr um und wartete manchmal, bis sie zu ihm aufschloß.
    Jetzt hatte sie ihn schon eine Weile aus den Augen verloren. Aber als sie ihre Bank erreichte, saß er dort, hatte eine Papierserviette mit einem aufgeschnittenen Salsiz auf der Sitzfläche ausgebreitet. Er war dabei, aus einer Feldflasche eine gelbe Flüssigkeit in zwei Plastikbecher zu gießen. »Jede Stunde zehn Minuten Pause, so habe ich es gelernt«, rief er ihr zu.
    Sonia blieb neben der Bank stehen. »Danke, ich habe keinen Hunger.«
    »Dann trink einen Schluck. Es ist Apfelsaft, nicht Bier.« Er hielt ihr den Becher hin. Sie nahm ihn und trank im Stehen.
    »Willst du dich nicht setzen?«
    »Ich kann auf dieser Bank nicht picknicken.« Sonia erzählte ihm von ihrem Erlebnis.
    »Verstehst du? Es war ein mystisches Erlebnis. Es wäre, als würde ich auf einer Kirchenbank picknicken.«
    »Bist du religiös?«
    Sonia überlegte. »Ich wäre es gerne.«
    »Du bist auf dem richtigen Weg. Du hast schon Erscheinungen. Wie eine Heilige.«
    Manuel begann, sein Rucksäckchen zu packen.
    »Das war keine Erscheinung. Ich habe nichts gesehen, was es nicht gibt. Ich habe nur etwas gesehen, was andere nicht sehen können.«
    Ein Stück weit war der Weg breit genug, daß sie nebeneinander gehen konnten. »An das Böse glaube ich jedenfalls. Dem bin ich begegnet.«
    »Das Böse ist eine Konvention wie das Gute. Man einigt sich darauf. Menschen opfern war gut. Menschen fressen war gut. Menschen rädern war gut. Menschen bombardieren ist gut. Menschen in die Luft sprengen ist gut. Je nachdem.«
    Sonia ging eine Weile schweigend neben ihm her, bis sie sagte: »Ich glaube, es gibt auch das absolut Böse, an dem man nicht heruminterpretieren kann. Das Böse als Macht.«
    Als er nicht darauf einging, fügte sie hinzu: »Folglich gibt es auch das Gute als Macht.«
    »Ich sag’s ja: religiös.«
    Der Weg wurde schmaler und zwang sie, hintereinander zu gehen. Sonia ließ ihm den Vortritt. »Manchmal denke ich, es war niemand aus dem Dorf.«
    Sie dachte, er hätte sie nicht gehört, und beschloß, in diesem Fall die Bemerkung nicht zu wiederholen.
    Aber dann fragte er: »Sondern?«
    Sonia lachte verlegen. »Manchmal kommt mir alles so sonderbar vor. Hast du das nie? Du sitzt irgendwo, und plötzlich verändert sich alles. Die vertrautesten Dinge werden plötzlich fremd und bedrohlich. Und dann hast du das Gefühl, daß da etwas anderes ist, eine andere Präsenz. Kennst du das?«
    »Nein.«
    »Genau dieses Gefühl hat mich hier oben befallen. Nur, es geht nicht mehr weg. Frau Felix, der Ficus, die Leuchtstäbe, Pavarotti, die Glocken, Bango, Bazzells Tod, die Kreuze, der Senatore und Barbara, die Gäste, die Dorfbewohner, der Schnee, Seraina. Alles immer seltsamer, alles immer fremder, alles immer bedrohlicher.«
    Der Weg stieg an in engen Serpentinen. An der Böschung wuchsen Alpenrosen. Jemand hatte vor nicht allzu langer Zeit die meisten ihrer Dolden abgerissen.
    Manuel ging mit regelmäßigen Bergführerschritten vor ihr her. Er hatte nichts gesagt, als sie geendet hatte. Einmal hatte sie sich zurückfallen lassen, damit sie, wenn er um eine der engen Kurven gegangen war, sein Gesicht sehen konnte. Ihr Verdacht, daß er still vor sich hin grinste, hatte sich nicht bestätigt. Sein Ausdruck war ernst und interessiert.
    »Ich mag dich sehr, Sonia«, sagte er unvermittelt.
    »Was wird das? Eine Liebeserklärung?«
    Er blieb ernst. »Ich will nur, daß du das weißt.«
    »Ich mag dich auch.«
    Sie hatten die Waldgrenze erreicht. Der Himmel war wolkenlos im Westen. Aber vom Osten her wälzte sich eine neue Nebelwulst heran.
    »Am Anfang mochte ich dich nicht, ehrlich gesagt.«
    »Ach? Und weshalb nicht?« fragte Sonia überrascht.
    Sie erriet ein angedeutetes Schulterzucken. »Vorurteil. Wiedereinsteigerin
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