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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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vertreten mußte. Erst für ein paar Wochen, dann für ein paar Monate und, nachdem die ganze Klasse und die ganze Schule eine Blume mitbringen mußte für das arme Fräulein Fehr, für immer.
    Alle Zahlenreihen ab sieben trugen die Handschrift von Fräulein Keller. Bis zum heutigen Tag konnte Sonia sie bei Bedarf einfach ablesen.
    Damals, als sie das in der Schule tat, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Abschreiben war verboten, und was sie tat, war ja nichts anderes. Ihre Rechenaufgaben, ihre Wörter, ihre Verse schrieb oder las sie einfach ab von den Bildern, die sie im Kopf hatte. Sie konnte sich nicht richtig freuen über ihre guten Noten und legte Fräulein Keller eines Tages ein Geständnis ab. Erst als diese ihr versicherte, aus dem Kopf abschreiben sei nicht verboten, verflogen die Gewissensbisse.
    Diese Gabe hatte ihr während der ganzen Schul- und Ausbildungszeit mehr geschadet als geholfen. Sie konnte zwar die kompliziertesten Algebraformeln aufstellen, wenn sie sie vorher schon einmal gesehen hatte, aber nachvollziehen konnte sie sie nie. Das gleiche galt für chemische und physikalische Formeln, Flüsse, Städte, Jahreszahlen, Vokabeln und Gedichte. Deswegen galt sie immer als eine phänomenale Begabung ohne jeglichen Ehrgeiz. Sie bestand ihre Matur mit der Minimalnote, die ihr die Lehrer als Denkzettel für soviel Talentverschwendung gaben.
    Die Bilder der letzten Nacht hatte sie natürlich auch gespeichert.
    Die regennasse Straße, in deren Pfützen sich, neonblau und halogenweiß, Fragmente des Schriftzugs des Meccomaxx spiegelten.
    Die Gestalten auf der Tanzfläche, die sich anstatt im gemächlichen Rhythmus des Trance Sounds im Zeitraffer des Stroboskops bewegten.
    Die Bar mit den in blutrotes Licht getauchten Gesichtern, unter denen sich auch die der beiden Männer aus der Küche befanden.
    Die zwei im blauen Fixerlicht der Damentoilette fast unsichtbaren Tabletten auf ihrer Handfläche.
    Und dann plötzlich die Musik als Zeitlupenaufnahme einer Lawine aus silbernen und schlachtschiffgrauen Würfeln, die auf sie zurollten und -hüpften und -taumelten. Und die Stimme des einen Mannes aus der Küche – er hatte einen sandgelben Namen –, die als Muster aus gewellten schwarzen und weißen Bändern perspektivisch in der oberen rechten Ecke der Projektionsfläche verschwand. Muster, die jedesmal, wenn er etwas sagte, vor ihren Augen entstanden.
    Und später – wieviel später? – die weiße Tapete, die sich in ihre Pixels auflöste, welche sich zu dunklen Flecken verdichteten oder als Wogen über die Wand zogen wie die Ähren, wenn der Sommerwind über ein Kornfeld weht.
    Wie lange hatte sie dem Treiben der Pixels zugeschaut? Minuten? Stunden? Nach wieviel Zeit war der Mann mit dem sandgelben Namen – Pablo? Ja, Pablo –, nach wieviel Zeit war Pablo aufgetaucht und hatte die Pixels vertrieben?
    Auch von ihm gab es Bilder. Das Yin-Yang-Tattoo auf der rechten Hinterbacke. Das krause Fell über dem Kreuzbein, das sich dunstblau anfühlte. Und wieder die Stimme, jetzt farbig, aber immer noch graphisch, ein später Vasarely.
    »Normalerweise erinnern sich die Frauen, ob sie mit mir geschlafen haben«, sagte Pablo.
    »Die Männer normalerweise bei mir auch.« Sonia hatte sich fertig angezogen. »Hast du meine Handtasche gesehen?«
    »Wie sieht sie aus?«
    »Wie eine E-Gitarre klingt.«
    Das Taxi sah aus, als lebte der Fahrer darin. Und auch der Fahrer machte diesen Eindruck. Es stank nach abgestandenem Rauch und dem Big Mac, der zwischen Fahrer- und Beifahrersitz in der offenen Styroporschachtel lag und von dem er bei jedem Rotlicht ein Stück abbiß.
    Sonia fingerte am Fensteröffner, aber die Scheibe reagierte nicht.
    »Ist Ihnen heiß?«
    »Nein.«
    »Gut. Ich friere nämlich.«
    »Ich will nur verhindern, daß ich Ihnen das Polster vollkotze.«
    Der Fahrer drückte auf einen Knopf, und die Scheibe neben Sonia glitt ins Innere der Türverkleidung.
    Die kühle Luft eines schmutzigen Apriltages blies ihr ins Gesicht. Der Taxichauffeur schlug vorwurfsvoll den Kragen seines Lumbers hoch.
    Erst kurz vor Sonias Fahrziel brach er sein Schweigen. Sie wurden von einem Polizisten angehalten und mußten warten, bis eine der drei Ambulanzen, die am Straßenrand parkten, weggefahren war.
    Hinter einer Absperrung stand eine kleine Menschenmenge und starrte auf das Rambazamba, eine Bar mit Live-Volksmusik, deren Eingang nun von zwei Uniformierten bewacht wurde.
    »Vielleicht hätten die einen andern Namen wählen
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