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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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Mundhöhle und verglühten auf ihrer Zunge. Tränen schossen ihr in die Augen.
    »So scharf?« erkundigte sich Malu.
    Sonia nickte. Langsam und konzentriert löffelte sie die Suppe aus. Aber die Tränen flossen weiter.
    »Immer noch die Suppe?«
    »Immer noch das Leben«, antwortete Sonia.
    »Vielleicht hast du recht. Vielleicht solltest du von hier weg.«
    Später, beim Abschied, fragte Malu: »Und was hast du mit der Wohnung vor?«
    Am gleichen Abend rief Frédéric an. Sie wußte, daß er es war, bevor er ein Wort gesagt hatte. Sie hielt den Hörer ans Ohr, sagte »ja« und wartete.
    Sie hörte einen Atemzug und sah gleichzeitig eine verschwommene Kontur aus einem sonderbaren Kobaltgrün. »Was willst du, Frédéric?«
    Als er zu sprechen begann, wurde die Kontur schärfer.
    »Ich muß mit dir reden.«
    »Ich nicht.« Sonia beendete das Gespräch. Das Kobaltgrün löste sich auf, als hätte es jemand mit klarem Wasser vermischt.
    Aber das Herzklopfen blieb. Sie nahm es mit in den Korridor, in die Küche, ins Bad und legte sich schließlich damit aufs Bett. Sie versuchte, sich auf andere Geräusche zu konzentrieren: das Rauschen des Abflußrohrs im Bad, das Ticken des Heizkörpers, die Schritte aus der Wohnung über ihr, das Klimpern aus Pavarottis Käfig. Ihr Herz beruhigte sich nicht, aber sein Pochen trat etwas in den Hintergrund.
    Was war das gewesen, dieser kobaltgrüne Schatten? Er gehörte zu Frédéric, kein Zweifel. Aber warum hatte sie ihn durchs Telefon gesehen?
    Nein, sie hatte den kobaltgrünen Schatten nicht gesehen. Sie hatte ihn gehört.
    Sonia stand vom Bett auf und ging in die Küche. Im Korridor fiel ihr Blick auf die Stelle an der Wand, zum ersten Mal seit langem. Der Fertiggips, mit dem das Einschlagloch zugespachtelt war, hatte beim Eintrocknen eine Delle hinterlassen.
    Sie öffnete einen der beiden sizilianischen Weine, die sie sich für eine besondere Gelegenheit aufgespart hatte. Bei Wein mußte sie sich wenigstens nicht beunruhigen, wenn er rot roch und rund schmeckte.

2

    Pavarotti saß in einem Transportkäfig, welcher – mit einem Frottiertuch umwickelt – in einer kleinen Louis-Vuitton-Reisetasche steckte. Sie hatte sie einst von Frédéric geschenkt bekommen und nie benutzt. Sonia fand Louis-Vuitton-Taschen vulgär, aber für Tiertransporte gerade noch akzeptabel.
    Sie saß allein in einem Viererabteil, hatte die Tasche neben sich gestellt und die Sitzbank gegenüber mit ihrer Handtasche und ihrer Reiselektüre belegt. So hoffte sie, Mitreisende davon abzuhalten, sich zu ihr zu setzen. Noch gut vier Minuten mußte sie durchstehen, bis der Zug den Bahnhof Chur verlassen würde.
    Sie blickte durch das Muster aus Wasserläufen hindurch auf den Bahnsteig. Ein dicklicher Halbwüchsiger warf eine Münze in einen Automaten voller Junk-Food und drückte eine Zahlenkombination. Nichts geschah. Er drückte noch einmal. Wieder geschah nichts. Jetzt drückte er auf die Geldrückgabetaste. Nichts.
    Er schaute sich um und begegnete Sonias Blick. Sie hob die Schultern.
    Der Junge schlug auf die Armatur des Automaten. Erst sachte, dann immer wütender.
    Bestimmt sabotiert durch das Bundesamt für Gesundheit, dachte Sonia und mußte lächeln. Seit heute morgen, als sie Malu die Schlüssel ihrer Wohnung übergeben hatte, war sie guter Laune. Es war, als hätte sie eine schwere Last abgeworfen.
    Sie begann ein neues Leben mit leichtem Gepäck. Außer Malu wußte niemand, wo sie hingegangen war. Und auch ihre neue Handynummer kannte sonst niemand.
    Malu nahm die Wohnung mit allen Möbeln, denn sie wollte nicht einziehen, sie brauchte sie nur, um, wie sie sich ausdrückte, »ein wenig Spielraum in die enge Beziehung mit Alfred zu bringen«. Am Ende der Sommersaison wollte sie sie wieder für Sonia freigeben.
    Aber Sonia wußte, daß sie nie mehr in diese triste Straße zurückkehren würde. Nie mehr das muffige Treppenhaus hinaufsteigen. Nie mehr den Schlüssel in das neue Sicherheitsschloß der zweckmäßig reparierten Tür stecken. Nie mehr in der billigen Einbauküche Fertiggerichte wärmen. Nie mehr die fremden Küchengerüche aus der Badezimmerlüftung. Nie mehr der Lärm von Haß und Liebe aus den Nachbarwohnungen. Nie mehr mitten in der Nacht ein Taxi rufen, nur um die Tristesse ihrer Wohnung mit der Melancholie einer Lounge zu tauschen.
    Der Zugführer ließ einen langen, klagenden Pfiff ertönen. Der Jugendliche versetzte dem Automaten einen letzten Fußtritt und sprang auf. Mit einem Ruck
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