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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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»Maschine frei.«
    Sie standen sich einen Moment gegenüber, jede mit ihrem Korb voller Wäsche. »Alles okay?« fragte Sonia.
    »Alles okay«, antwortete die Frau.
    Sonia ging zur Seite und ließ sie durch.
    Auf dem Weg zurück in die Wohnung leerte sie den Briefkasten. Er enthielt die Zeitungen der letzten zwei Tage und einen Brief. Als Absender trug er ein diskretes B&Z auf der Rückseite. Sonia kannte die Initialen: Baumann & Zeller, Frédérics Anwälte. Sie warf ihn ungeöffnet zu den Papieren auf dem Küchentisch und setzte den Frühlingsputz fort.
    Sie entfernte die schwarzen Lederkissen ihres verhaßten Corbusier-Sofas – alle hatten Corbusier-Sofas – und legte sie auf den Boden. Dann saugte sie Gestell und Polster mit der Polsterdüse, bis die Stäubchen, Fussel, Flusen, Fädchen und Erinnerungen an die Besucher der letzten Monate restlos entfernt waren.
    Danach machte sie sich einen Gin Tonic ohne Gin, zog frische Chirurgenhandschuhe an und holte den Brief. Sie betrachtete ihn von allen Seiten, holte Gin und schüttete einen Schuß ins Tonic. Als sie einen Schluck nahm, merkte sie, daß ihre Hände zitterten.
    Sie durchwühlte den Müllsack unter dem Spülbecken und fand das Päckchen Zigaretten, das sie vor ein paar Stunden angewidert weggeschmissen hatte. Streichhölzer fand sie keine. Sie drückte auf den Zündknopf des Gasherds und steckte sich die Zigarette an der Gasflamme an. Dann stellte sie sich ans offene Fenster und rauchte.
    Ein kalter Ostwind trieb graubraune Wolken vor sich her. Manchmal machten sie Platz für ein paar Sonnenstrahlen, die die Straße für ein paar Augenblicke in ein grelles Bühnenlicht tauchten. Die Passanten, die mißmutig ihren Geschäften nachgingen, schauten dann verwundert in den Himmel und hielten eine Hand vor die Augen, als wollten sie ihr Inkognito wahren.
    Der Brief enthielt die Aufforderung, ein Gesuch um die vorläufige Einstellung des Verfahrens gegen ihren geschiedenen Ehemann Dr. Frédéric Forster zu unterschreiben, und ein paar neue Begründungen, weshalb dies unumgänglich sei. Das wußte sie, ohne den Brief zu öffnen. Sie würde ihn unbeantwortet lassen und damit die Freilassung von Frédéric weiter verzögern.
    Aber eines Tages würde er auf freiem Fuß sein. Das war ein Gedanke, an den sie sich schon lange gewöhnt hatte. Nur was sie dann tun würde, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Mit der Zukunft hatte sie sich in ihrem früheren Leben bis zum Überdruß befaßt.
    In den Winterferien planten sie die Sommerferien. Beim Abendessen das Menü für den nächsten Abend. Beim Wohnungskauf den Hauskauf für dann, wenn Kinder da waren. Als keine Kinder kamen, die In-vitro-Behandlung. Während der In-vitro-Behandlung die Adoptions-Szenarien. Bei der Beförderungsfeier den nächsten Karriereschritt. Beim Umzug nach London den Umzug nach New York. Beim Schlafengehen das Aufstehen. Beim Anziehen das Ausziehen. Über der Zukunft war in ihrem früheren Leben die Gegenwart in Vergessenheit geraten.
    Der Müllwagen fuhr vor. Zwei Männer in orangefarbenen Overalls sprangen ab, verschwanden im Hofeingang, schoben einen Container heraus und schauten zu, wie er von der Hydraulik hochgehoben und in den Laderaum gekippt wurde. Sonia mußte an den toten Spitz denken. Vielleicht befand er sich in einem der Müllsäcke, die mit lautem Dröhnen zusammengepreßt wurden. Gemeinsam mit ihren Staubsaugerbeuteln voller schlechter Erinnerungen.
    Sie schloß das Fenster. Der Wellensittich beäugte sie durch seinen kleinen Spiegel. »Am besten, wir verschwinden von hier, Pavarotti.«
    Der Vogel öffnete den Schnabel, zeigte seine klobige Zunge und begann, an seiner Sitzstange zu nagen.
    Kurz vor Mitternacht sah die Wohnung aus, als hätte noch nie jemand darin gewohnt. Die Kleider waren in der Reinigung, die Wäsche lag wieder im Schrank, Bad und Küche rochen nach Putzmittel, das Wohnzimmer nach Teppichschaum und das Schlafzimmer nach frischer Bettwäsche. Sonia war geduscht, ihr schwarzes Haar gefönt, sie hatte den grünen chinesischen Seidenpyjama angezogen, den sie sonst nur zur Grippe trug.
    Besser ging es ihr trotzdem nicht. Zum Gefühl der Unwirklichkeit, das von der letzten Nacht zurückgeblieben war, und zum täglich wachsenden Widerwillen gegen sich selbst, sprang sie wieder die Angst an, die ihr seit jenem Tag im Dezember auflauerte.
    Sonia ging in die Küche und machte sich einen Pfefferminztee. Während sie darauf wartete, daß er sich etwas abkühlte,
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