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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin
Autoren: Victoria Hanley
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Teil 1
     
1. Kapitel
     
    Auf Archeld, dem Schloss des Königs, saß Dreea, die Königin, und webte. Im ganzen Königreich pries man die ausdrucksvollen Muster ihrer Teppiche. Sie zeugten von einer verhaltenen Leidenschaft, die sich jedoch nie in Mimik oder Stimme der Königin verriet. Auf einem Teppich zu ihren Füßen saß ihre Tochter Torina und stickte. Unter ihren langen, schlanken Fingern, die geschickt die Nadel vor- und zurückführten, entstand die aufgehende Sonne, das Wappen des Hauses Kareed. Mirandae, die Zofe, saß am surrenden Spinnrad und spann Wolle.
    Torina steckte die Nadel kreuzweise in die Garnspindel und spreizte ihre Hände. „Genug gestickt, Mama! Lasst mich gehen und ausreiten."
    Dreea lächelte geduldig. „Die Sonne ist beinahe untergegangen. Du bist doch heute Morgen schon ausgeritten."
    „Die Jungen sind immer noch draußen." „Und du bist kein Junge." Dreea schwieg und zog einen roten Faden in das blaue Muster, an dem sie arbeitete. „Sie dürfen nach König Kareed ausschauen! Der König
    ist mein Vater - ich sollte die Erste sein, die ihm entgegenreitet! " Eine widerspenstige Strähne hatte sich aus dem Band befreit, das ihre roten Locken zusammenhielt.
    Dreea richtete sich auf und legte die Hände über ihren gewölbten Bauch. Betrübt dachte sie daran, wie Kareed immer wieder von seinem Temperament dazu verleitet wurde, seine Kraft im Kampf mit anderen Königreichen zu messen. Wieder war er in den Krieg gezogen, die Grenzen seines Reiches zu erweitern. Seit er alt genug war, das Schwert zu schwingen, hatte ihn sein kriegerischer Stolz in die Schlacht getrieben. Nach jedem Sieg wurde sein Machtbereich größer. Er erstreckte sich im Norden bis Glavenrell, im Osten bis Desante, im Westen bis zum Meer und im Süden bis Bellandra. Bellandra, das Königreich des Friedens, mit seinem reichen Erbe von Kunst und Gerechtigkeit. Bellandra, dessen Bewohner seit vielen Generationen in Sicherheit und Wohlstand lebten. Wehmütig dachte Dreea daran, wie es sich in einem solchen Land wohl leben ließ. Es hieß, sein Zauberschwert widerstehe jedem Feind. Wenn das wahr war, welches Schicksal erwartete dann Kareed? Furcht und Hoffnung stritten in Dreeas Brust. Einmal war sie selbst in Bellandra gewesen und war beeindruckt von der Gastfreundschaft seiner Menschen. Sie wünschte, die Schönheit dieses Landes müsste nicht einem Krieg zum Opfer fallen. Doch genau das war es, was Kareed vorhatte. Sollte er siegen, würde Bellandra von Archeld versklavt werden. Aber wenn das berühmte Schwert ihm widerstünde? Was würde sie dann tun? Sie liebte Kareed. Ihre zarte Seele war ganz von ihm erfüllt.
    Nun aber fürchtete sie, dass Kareed das Schicksal herausgefordert und Unheil auf sie herabgeschworen hatte. Wie viele Gebete hatte sie gesprochen, es möge einen guten Ausgang nehmen.
    „Dein Vater wird so bald nicht zurückkehren", erklärte die Königin der ruhelosen Tochter. „Aber reiten will ich trotzdem", beharrte diese. Dreea schüttelte den Kopf. Torina habe einen ungestümen Charakter, schlimmer als die wilden Bewohner der tiefen Wälder Archelds, hieß es oft. Als der feurige König Kareed Dreea geehelicht hatte, hatte er viele Edelfrauen von auffallenderer Schönheit und größerem Reichtum verschmäht. Sie wusste, dass viele sich fragten, warum er sie behielt, eine Königin, die keine Kriege mochte und ihm noch keinen Stammhalter geschenkt hatte. Neun Jahre war es her, seit ihre Tochter zur Welt gekommen war. Neun Jahre und sieben Fehlgeburten. Es stimmte sie traurig, dass einem so mächtigen König etwas so Einfaches wie das Glück eines Sohnes versagt blieb. Aber nur bei ihr, seiner geliebten Dreea, konnte Kareed, der mächtige König, sich als liebender Mann erweisen. Bei ihr konnte er Wärme zeigen und ihr die Geheimnisse seines Lebens anvertrauen. Wahrscheinlich ahnte niemand, wie viel sie wusste. Sie achtete sein Vertrauen und würde niemals ihr Wissen preisgeben.
    Aber nun, endlich, war sie wieder schwanger, und wenn der Mond sich gerundet hatte, würde sie niederkommen. Vielleicht war es diesmal ein Junge. Eine leichtes Geräusch von draußen lenkte Torinas Blick zur Tür. Überrascht leuchteten ihre meergrünen Augen auf, als ihr Spielgefährte Zeon mit geröteten Wangen hereinstürmte.
    „Torina!", rief er mit kindlicher Stimme, „wir haben den König gesehen, er kommt über die Hügel geritten!" Ein Wächter erschien unter der Tür und packte Zeon grob am Arm. „Das ist
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