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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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fuhr der Zug an.
    Sonia vertiefte sich in ihr Handbuch für Balneologie, um falls nötig den Blickkontakt mit einem platzsuchenden Passagier zu vermeiden. Aber niemand kam, außer dem Schaffner. Er kontrollierte ihre Fahrkarte und wünschte eine gute Fahrt.
    Nach wenigen Minuten hatte die Bahn die Peripherie der kleinen Stadt erreicht. Sonia sah freudlose Wohnsiedlungen, auf deren Fassaden der Regen seine Spuren hinterlassen hatte, und häßliche Industriebauten kleiner Firmen, deren unbeholfene Schriftzüge aufdringlich leuchteten in der düsteren Regenlandschaft. Sonia wandte sich ihrem Buch zu.
    »Ist hier noch frei?«
    Sonia sah widerwillig auf. Eine alte Frau in einer gelben Regenhaut stand neben dem Abteil und blickte vorwurfsvoll auf die belegte Sitzbank. Sonia räumte wortlos ihre Sachen weg. Die Frau zog ihre Regenhaut aus. Darunter war sie ebenfalls gelb gekleidet. Eine Hose mit einem von Gelb dominierten Schottenmuster. Ein Twinset aus Jäckchen und Pullover aus gelber, fleckiger Kaschmirwolle. Einen gelben Schal mit einem zarten Blumenmuster. Auch ihre Haare waren gelb. Nur die Augen waren grün und von einem Lidstrich in ähnlicher Farbe eingefaßt. Ihre Lippen waren chinarot geschminkt.
    Sonia konzentrierte sich wieder auf ihr Buch. Sie spürte, daß die Frau sie anstarrte. Aber Sonia heftete ihren Blick fest auf das Handbuch der Balneologie. Sie hatte keine Lust auf eine Reisekonversation.
    Ausgerechnet jetzt begann Pavarotti zu schimpfen. Sonia versuchte, es zu ignorieren. Bis die Frau sagte: »Ihre Wellis brauchen Luft.«
    Sonia spähte durch den halb geöffneten Reißverschluß in das Innere der Tasche. Sie fühlte sich bemüßigt zu sagen: »Er hat genug Luft.«
    Die Frau schwieg einen Moment. Dann fragte sie: »Hat er keinen Spielgefährten?«
    »Nein, er ist Single.«
    »Einzelhaft. Ich nenne es Einzelhaft. Wellis sind Schwarmtiere.«
    »Pavarotti haßt Wellensittiche.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Er hatte schon zwei Spielgefährten. Beide hat er totgehackt.«
    »Totgehackt?« stieß die gelbe Frau ungläubig aus. »Dann ist das Tier fehlgeprägt.«
    »Er ist nur lieber allein. Soll vorkommen.«
    »Ich hoffe, er hat wenigstens einen Spiegel.«
    »Auch darauf hackt er ein.«
    »Naturäste. Keine gedrechselten Holz- oder Plastikstangen. Davon bekommt er Ballengeschwüre.«
    »Er sitzt auf einem Buchenzweig aus biologischer Bodenhaltung.«
    »Machen Sie sich nur lustig.«
    Der rote Zug fuhr durch eine enge Schlucht. Tannen mit regenschweren Ästen säumten die Strecke. Zuweilen stach das zarte Grün einer Lärche heraus. Der alte Wagen zweiter Klasse rumpelte über die Schienen. Sonia mußte den Zeigefinger benutzen, um den Zeilen ihres Buches zu folgen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die alte Frau. Die starrte auf die Tasche, als versuchte sie, telepathischen Kontakt mit Pavarotti aufzunehmen.
    Ihre Hände hatte sie auf die Knie gelegt. Sie waren ungewöhnlich groß und ungeschlacht. Die Fingernägel trugen das gleiche Chinarot wie ihre Lippen und wölbten sich über die Nagelbetten wie lackierte Nußschalen.
    Sonia begannen diese Hände unheimlich zu werden. Sie blickte auf. Die Gelbe schaute ihr direkt in die Augen. »Ich habe mein ganzes Leben lang schwer gearbeitet«, sagte sie, wie um ihre Hände zu rechtfertigen.
    Sonia wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.
    »Nehmen Sie den Vogel immer mit in die Ferien?« erkundigte sich die Frau.
    »Ich fahre nicht in die Ferien.«
    »Sie wohnen oben?«
    »Ja.«
    »Wo?«
    »Val Grisch.«
    »Da hätten Sie über Klosters fahren müssen, durch den Vereina-Tunnel.«
    »Ich mag Tunnels nicht besonders.« Sonia nahm sich wieder das Buch vor, aber die Frau verstand den Wink nicht.
    »Arbeiten Sie dort?«
    Sonia nickte, ohne aufzuschauen.
    »Als was?«
    »Physiotherapeutin«, seufzte sie. Gleich wird sie mit ihren Symptomen kommen.
    Aber die Alte ging nicht weiter darauf ein. »Ich mache nur ein kleines Fährtchen. Ich habe das Generalabonnement.«
    »Hm.«
    »Morgens gehe ich zum Bahnhof und steige in einen Zug. Abends bin ich wieder zu Hause.«
    »Schön.«
    Sonia spürte, daß die Frau sie ansah und darauf wartete, daß sie mehr sagte. Sonia widerstand.
    »Vielleicht scheint weiter oben die Sonne.«
    »Vielleicht«, murmelte Sonia.
    »Wissen Sie, wie lange wir keine Sonne mehr hatten?«
    Sonia schüttelte den Kopf.
    »Zweiundvierzig Tage.«
    Sonia schaute von ihrem Buch auf. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muß das hier
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