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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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Grisch versuchte bis in die sechziger Jahre, mit der Entwicklung Schritt zu halten, baute drei Schlepplifte und eine Sesselbahn und sogar eine nie fertiggestellte Sprungschanze. Aber die Hänge über dem Dorf waren ein zu anspruchsloses Skigebiet, und die höher gelegenen waren fast besser von den benachbarten Kurorten zu erreichen, in denen auch sonst mehr geboten wurde.
    Das Gamander, einst konzipiert für das gehobene Bürgertum, überlebte zuerst dank ein paar treuen Stammkunden und dann immer mehr dank Bergwanderern, Naturfreunden und Reisegruppen auf der Durchfahrt. Es bekam die Patina einer Jugendherberge mit lustig gezeichneten Hausregeln am Anschlagbrett und Gästen, die auf der Terrasse ihre mitgebrachten Lunchpakete verzehrten.
    Das Dorf hatte sich längst damit abgefunden, vom Einkommen der Pendler, etwas Tagestourismus, den Ferienwohnungsbesitzern und der Parahotellerie zu leben, da wechselte das Hotel den Besitzer. Es wurde für viel Geld renoviert und erweitert.
    Val Grisch lag auf einer Südterrasse an der Mündung eines weiten, terrassierten Tals auf etwas über vierzehnhundert Meter über Meer. An klaren Tagen hatte man eine herrliche Sicht auf die waldigen Ausläufer der Felskette der gegenüberliegenden Talseite und ihre schroffen, grauweißen Zacken. Die letzten Kilometer der gewundenen Straße ins Dorf führten durch sanfte Wiesen, die aussahen, als hätte sie ein Gartenarchitekt angelegt.
    Aber an diesem nebelverhangenen Regentag sah Sonia durch das beschlagene Postautofenster nur den Saum der Wiesen, dicht und gepflegt wie das Green eines Golfplatzes. Der Bus war nur zu einem Drittel besetzt. Die meisten Fahrgäste waren Schüler, die der Primarschule von Val Grisch entwachsen waren und in die Mittelschule pendelten. Sie hatten sich in Storta mit der Selbstverständlichkeit von Stammgästen auf ihre Plätze gesetzt, sich kurz zugenickt und ihren Schularbeiten oder Handys zugewandt. Kaum ein Wort war gefallen auf der Fahrt. Nur wenn das Postauto hielt und jemanden aus- oder einsteigen ließ, war ein knappes »buna saira« zu vernehmen.
    Auch die übrigen Passagiere – ein alter Mann mit einem abgewetzten Militärrucksack, eine Frau um die Fünfzig mit zwei Taschen, aus denen die Spitzen von Tomatensetzlingen herauslugten, und ein übermüdeter Rekrut auf Urlaub – hatten sich einzeln auf die Zweiersitze verteilt. Nur zwei alte Eheleute, beide in rauchfarbenen durchsichtigen Pelerinen, saßen nebeneinander. Aber auch sie sprachen kein Wort.
    Plötzlich mischte sich in das verläßliche Brummen des Diesels das Horn des Postautos. »Tüü-Taa-Taa!« klang es vor einer Kurve, die so eng war, daß der Fahrer ein Stück der Gegenfahrbahn in Anspruch nehmen mußte. Und noch einmal »Tüü-Taa-Taa!« wie aus Erleichterung, daß nichts entgegengekommen war.
    Ein Gruß aus einer längst verschwundenen Welt. Sonia war für ein paar Sekunden erfüllt von der Zuversicht ihrer Kindheit.
    Sie gähnte und wischte sich in einem vorgetäuschten Müdigkeitsanfall zwei Tränen aus den Augen.
    Das alte Ehepaar stand auf, das Postauto verlangsamte die Fahrt und hielt an. Die beiden stiegen aus und gingen auf ein kleines Seitensträßchen zu. Die Tür schloß sich, der Chauffeur legte den Gang ein und fuhr weiter. Als Sonia zurückschaute, waren die grauen Pelerinen des Paars kaum mehr vom Grau des späten Nachmittags zu unterscheiden.
    Sonia stieg als letzte aus. Das Postauto stand vor der Post, einem dem Baustil der alten Engadinerhäuser nachempfundenen Neubau. Der Gepäckraum an der Wagenunterseite war aufgeklappt. Der Chauffeur half Sonia, ihre beiden Koffer, die Schachtel mit dem Käfig und das Rollwägelchen auszuladen. Dann wünschte er ihr schöne Ferien.
    Ein großer Mann um die Vierzig mit einer grünen Schürze kam auf sie zu. Er trug einen Regenschirm und eine Uniformmütze, auf der in goldenen Buchstaben »Hotel Gamander« stand. »Sonia Frey?« fragte er. Er hatte eine tiefe, angenehme Stimme und einen slawischen Akzent.
    Sie nickte.
    »Ich bin Igor.« Sie gaben sich die Hand. Zwei Arbeitskollegen bei ihrer ersten Begegnung. »Warte hier, bitte.«
    Er nahm ihre Koffer und verschwand damit hinter der Hausecke. Kurz darauf kam er wieder und nahm die Schachtel mit dem Käfig und das Rollwägelchen.
    »Laß nur«, sagte Sonia, »ich kann auch etwas tragen.«
    Igor schüttelte den Kopf. »Muß üben.«
    Sie folgte ihm um die Hausecke. Dort stand ein dunkelblauer Landauer mit einem Lederverdeck und dem
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