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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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beim Altar und die Sparbeleuchtung. Dann prüfte er, ob das Hauptportal verschlossen war, ging zum Seitenportal, warf einen letzten Blick in die stille Kirche, trat ins Freie und schloß ab. Es war genau sechs Uhr. Morgen früh um sechs würde er San Jon wieder öffnen.
    Es regnete wieder stärker. Er zog die Kapuze seiner Goretex-Jacke über den fast kahlen Kopf und schlug den Weg zum Kirchplatz ein. Die beiden Laternen brannten bereits. Der Landauer des Hotel Gamander fuhr über den Platz. Burger winkte dem Kutscher zu. Er hieß Curdin Josty und war sein Cousin. Ihm gehörten die Pferde. Er arbeitete neuerdings für eine Pauschale als Hotelkutscher.
    Curdin winkte zurück.
    Die eiserne Spitze von Gian Sprechers Spazierstock klickte auf der naßglänzenden Teerstraße. Er hatte die Kapuze seiner altmodischen roten Skilehrerjacke hochgezogen. Der schlaffe Rucksack aus Ziegenleder war fast schwarz vor Nässe. Sprecher hinkte als Folge einer verschleppten Holzfällerverletzung, die ihn aber nicht daran hinderte, zweimal die Woche seinen Einachser zu Hause zu lassen und den beschwerlichen Weg ins Dorf zu Fuß zu unternehmen. Seine Lippen waren schmal geworden vom ständigen Zusammenpressen.
    Beim Anblick der Kutsche verlangsamte er seinen Schritt, um Curdin Zeit zu geben, in die Hoteleinfahrt einzubiegen. Er hatte keine Lust, mit ihm zu reden.
    Der Kutscher grüßte ihn mit einer kaum sichtbaren Handbewegung, die Gian mit einem Kopfnicken erwiderte. Er blieb stehen und blickte dem Gefährt nach, bis es den Hoteleingang erreicht hatte und der Portier vom Bock stieg, einen Schirm aufspannte und den Schlag öffnete.
    Als die junge Frau ausstieg, wandte Gian den Blick ab und hinkte weiter.
    Ein paar breite Stufen führten zum Eingang des Hotels. Als sie die zweitoberste erreicht hatte, glitt die Glastür zur Seite. Sonia betrat die Empfangshalle.
    Es roch nach Farbe und Holzpflegemittel. Die Schnitzereien, die den Empfangstresen, die Portiersloge, die Säulen, Balken und Treppengeländer des Raumes verzierten, waren abgelaugt und aufgefrischt. Eine ältere Frau in der Uniform eines Zimmermädchens saugte den roten Spannteppich. Auf einer hohen Bockleiter stand ein Elektriker und machte sich an einem schweren Kronleuchter zu schaffen. Hinter dem Empfangstresen saß ein junger Mann vor einem Flachbildschirm. Zwei Frauen guckten ihm über die Schultern. Eine der beiden war Barbara Peters.
    Niemand schien Sonias Ankunft zu bemerken. Erst als Igor mit dem Gepäck kam und verkündete: »Frau Frey ist angekommen«, schaute Barbara Peters auf. Sie war ungeschminkt, was bei ihrem Gesicht aussah wie ein sehr diskretes Make-up, und trug ihr Haar sorgfältig ungekämmt.
    »Entschuldigen Sie, wir sind hier mitten in einem Computerkurs. Darf ich vorstellen: Ihre Kollegin Michelle Kaiser, Rezeptionistin, und Herr Kern, der versucht, uns seine Hotel-Software zu erklären.«
    Neben Barbara Peters sah die Rezeptionistin aus wie die unattraktive Freundin, mit der eine schöne Frau ihr eigenes Aussehen hervorhebt. Aber ohne diesen Gegensatz war sie recht hübsch. Sie hatte ein rundes Gesicht, trug ihr schwarzes Haar kurz wie ein Rekrut und lächelte, als hätte sie sich schon den ganzen Tag auf Sonia gefreut. Jetzt, da sie zur Begrüßung aufstand, sah Sonia, daß sie klein war. Fast zu klein für den Empfangstresen, hinter dem sie ihre Arbeitstage verbringen würde. Sie überreichte Sonia einen Ring mit zwei Schlüsseln, und die neue Chefin sagte: »Igor zeigt Ihnen Ihr Zimmer, und wenn Sie eingerichtet sind, kommen Sie runter, und ich zeige Ihnen den Rest.«
    Sonia haßte Dachschrägen. Sie erinnerten sie an die Zeit, als sie eine Zahnspange trug (was damals noch kein Modeaccessoire war) und einen Kopf größer war als alle Jungen, die sie interessierten. Die Dachschräge in ihrem Zimmer von damals war pistaziengrün gestrichen, was ihre Mutter, die auch sonst nicht viel von jungen Mädchen verstand, für eine Jungmädchenfarbe hielt. Die schiefe Ebene über ihr gab ihr das Gefühl, sie würde aus dem Zimmer rutschen.
    Und jetzt hatte ihr neues Zuhause eine Dachschräge. Keine pistaziengrüne, sondern eine getäfelte, was fast noch schlimmer war. Es erinnerte sie an ihr Zimmer in der Ferienwohnung im Berner Oberland, dessen Wände so dünn waren, daß sie jeden Streit ihrer Eltern mitbekam. Und jede Versöhnung.
    Sonia zog die Gardine beiseite und öffnete das Fenster. Wenigstens lag es nicht so hoch wie normalerweise Mansardenzimmer liegen.
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