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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand
Autoren: Martin Suter
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essen. Im Steinbock ißt man übrigens gut. Machen Sie sich einen schönen Tag, Sie sehen etwas müde aus. Sie haben ja noch drei Tage Zeit, bis die ersten Gäste kommen.«
    Sonia wartete, bis sie durch die Tür verschwunden war. Dann machte sie einen Bogen um das Sportbecken und ließ sich sachte ins Thermalbad sinken.
    Sie trieb im warmen Wasser, bis sie die Zeit vergaß. Danach hüllte sie sich in ein warmes Badetuch aus einem beheizten Schrank und legte sich auf eine Liege im Ruheraum. In einem großen Granitkubus in der Mitte des Raumes war ein Meerwasseraquarium untergebracht, in welchem Clown- und Kardinalfische gelassen ihre Runden drehten. Ein unsichtbarer Raumbedufter parfümierte die Luft mit ätherischen Ölen, und leise klang aus verborgenen Lautsprechern asiatisch angehauchte Meditationsmusik. Vielleicht war es doch kein Fehler gewesen, hierherzukommen, dachte Sonia, bevor sie einschlief.
    Reto Bazzell steuerte den achtundachtziger Mitsubishi Pajero vorsichtig über den glitschigen Feldweg, der von Wengers Hof zur Hauptstraße führte. Der Tankanhänger faßte fünftausendachthundert Kilo Milch und war zu zwei Dritteln voll. Aus den Boxen klang »Rat Race« von Bob Marley.
    Reto war Milchsammler, ein Job, den sein Vater für ihn erfunden hatte. Er hatte den letzten acht Milchbauern der Gegend vorgerechnet, wieviel bequemer, billiger und qualitativ besser es wäre, die Milch im Hof in Kühltanks zu lagern und jeden Tag abholen zu lassen, anstatt sie zweimal täglich mit dem Traktor zur Sammelstelle zu fahren. Die Bauern hatten sich, einer nach dem andern, Lagertanks angeschafft und sein Vater diesen gebrauchten Tankanhänger. Seither war Reto zuständig für die Milchsammlung in Val Grisch. Nicht gerade sein Traumjob.
    Aber besser als die meisten Jobs, die er in den letzten Jahren ausprobiert hatte. Er war gelernter Landwirt, mit Abschluß und allem. Da hatte ihm sein Vater keine Wahl gelassen. Aber noch in der Nacht seines letzten Schultages hatte er den Koffer gepackt und war gegangen. Auf Nimmerwiedersehen, wie er dem Vater zuschrie.
    Das war einundzwanzig Jahre her. Acht oder neun Mal war er seither auf Nimmerwiedersehen gegangen. Das letzte Mal vor bald vier Jahren. Und heute war er der Milchsammler von Val Grisch.
    Er bog in die Hauptstraße ein, immer noch vorsichtig. Fahren mit lehmigen Reifen auf nassem Asphalt war wie fahren auf poliertem Eis.
    Auf der Dorfstraße überholte er eine Frau, die er nicht kannte. Sie trug einen grünen Schirm mit der Aufschrift »Hotel Gamander«. Er sah sie nur kurz von der Seite und danach noch ein wenig im Rückspiegel. Groß, schwarzhaarig, schlank. Und, so gut er es aus dieser Distanz beurteilen konnte, attraktiv. Jedenfalls ging sie so, wie Frauen gehen, die wissen, daß sie attraktiv sind.
    Ein Gast konnte sie nicht sein, das Gamander öffnete erst am Samstag. Also gehörte sie zum Personal. Genau, wie er gehofft hatte: Das neue Gamander brachte etwas frisches Blut in dieses gottverlassene Kaff. Reto drehte die Musik lauter und fuhr ein wenig schneller.
    Am Anfang ihrer Ehe hatte Sonia Weihnachten immer im Engadin verbracht, allerdings im mondäneren Teil. Frédérics Eltern besaßen in St. Moritz eine Wohnung, und es war Tradition, daß man die Festtage gemeinsam oben verbrachte. »Wann kommt ihr dieses Jahr rauf?« fragte ihre Schwiegermutter jeweils spätestens nach den Sommerferien.
    Es gab überhaupt viele Traditionen in Frédérics Familie. Jeder Geburtstag von Frédérics Mutter wurde mit einem Gartenfest in der Beerenstraße gefeiert. Die Beerenstraße war das Elternhaus, eine kaputtrenovierte Villa mit Blick auf Stadt und See. »Wir sind am Sonntag in der Beerenstraße«, pflegte Frédéric ihr mitzuteilen oder: »Ich schau nach der Arbeit noch schnell in der Beerenstraße vorbei.«
    Im Garten dieser Beerenstraße stieg bei jeder Witterung die Geburtstagsparty für Maman, immer am ersten Sonntag nach dem eigentlichen Datum, dem achtundzwanzigsten Juli. Frédéric und seine beiden Brüder und deren Familien hatten ihre Sommerferien danach einzurichten. Tradition.
    Auch der Muttertag hatte seine Tradition. Paps lud ins Imperial, immer an den gleichen Tisch. Und es gab immer Spargel mit Rohschinken, Kalbsfilet mit frischen Morcheln und Erdbeertörtchen. Und danach fuhr man in die Beerenstraße, die mit Blumenlieferungen von Vater, Söhnen, Schwiegertöchtern und Enkeln geschmückt war wie eine Friedhofskapelle. Immer blieb man bis nach dem Tee und
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