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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River
Autoren: John Irving
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1 - Unter den Baumstämmen
    Der junge Kanadier - er war höchstens fünfzehn - hatte zu lange gewartet. Einen endlosen Augenblick lang standen seine Füße still auf den Stämmen, die im Becken oberhalb der Flussbiegung trieben; dann war er ausgerutscht und im Wasser verschwunden, ehe jemand seine ausgestreckte Hand packen konnte. Einer der Flößer hatte noch versucht, nach den langen Haaren des Jungen zu greifen; immer wieder patschte die Hand des Mannes in das eiskalte Wasser, das von all den abgeriebenen Rindenstücken zähflüssig, fast suppig war. Dann krachten zwei Stämme zusammen und brachen dem verhinderten Lebensretter das Handgelenk. Die Lücke zwischen den wie ein Teppich flussabwärts treibenden Stämmen schloss sich über dem jungen Kanadier; nicht einmal eine Hand oder ein Stiefel tauchten noch kurz aus dem braunen Wasser auf.
    Sobald die Flößer den Stamm losgestochert hatten, der einen Holzstau verursacht hatte, mussten sie sich sputen und ständig in Bewegung bleiben. Wenn sie auch nur eine Sekunde innehielten, würden sie in die Strömung stürzen und von den flussabwärts treibenden Stämmen zu Tode gequetscht werden, noch ehe sie ertrinken konnten - doch Ertrinken kam häufiger vor.
    Dem Koch und seinem zwölfjährigen Sohn, die vom Flussufer aus das Fluchen des Flößers hörten, der sich das Handgelenk gebrochen hatte, war sofort klar, dass jemand in noch größeren Schwierigkeiten steckte als der verhinderte Lebensretter, der seinen verletzten Arm befreit hatte und wieder sicher auf den treibenden Stämmen stand. Die anderen Flößer beachteten ihn nicht, sondern eilten mit Trippelschritten über die Stämme in Richtung Ufer und riefen den Namen des verschwundenen Jungen. Dabei schoben sie ständig mit ihren Flößerhaken die Stämme vor ihnen in die gewünschte Richtung. Jetzt ging es ihnen zwar in erster Linie darum, sicher ans Ufer zu gelangen, doch dem Sohn des Kochs, der die Hoffnung nicht aufgeben wollte, kam es so vor, als versuchten sie, eine möglichst breite Lücke im Wasser zu schaffen, wo der junge Kanadier wieder auftauchen könnte. Tatsächlich aber gab es kaum mehr Lücken zwischen den Stämmen. Ehe man sich's versah, war der Junge, der sich ihnen als »Angel Pope aus Toronto« vorgestellt hatte, nicht mehr da.
    »Ist es
Angel?«,
fragte der Zwölfjährige seinen Vater. Mit seinen dunkelbraunen Augen und dem auffallend ernsten Gesichtsausdruck hätte man den Jungen glatt für Angels jüngeren Bruder halten können. Doch seine Ähnlichkeit mit dem immer wachsamen Vater ließ keinen Zweifel, zu wem er gehörte. Der Koch wirkte stets besorgt, als rechnete er ständig mit den unwahrscheinlichsten Katastrophen, und diese unterschwellige Besorgnis spiegelte sich auch in der Ernsthaftigkeit seines Sohnes wider. Ja der Junge sah seinem Vater so ähnlich, dass sich mehrere Holzarbeiter schon laut gewundert hatten, warum der Junge beim Gehen nicht genauso auffällig hinkte wie sein Dad.
    Der Koch wusste nur zu gut, dass tatsächlich der junge
Kanadier
unter die Baumstämme geraten war. Er selbst hatte die Holzfäller ja noch gewarnt, Angel sei für die Arbeit als Flößer zu unerfahren; der Bursche hätte nicht versuchen dürfen, einen Holzstau aufzulösen. Doch wahrscheinlich wollte er sich unbedingt nützlich machen, und vielleicht hatten die Flößer ihn zunächst gar nicht bemerkt.
    Außerdem hatte der Koch gedacht, Angel Pope sei noch zu unerfahren und ungeschickt, um in einer Sägemühle in der Nähe des großen Sägeblatts zu arbeiten. Das war ausschließlich den Sägewerkern vorbehalten, hochqualifizierten und erfahrenen Leuten.
    Auch die Hobelmaschine wurde von einem Fachmann bedient, allerdings war diese Tätigkeit nicht besonders gefährlich.
    Zu den gefährlicheren, aber weniger anspruchsvollen Jobs gehörten die Arbeit auf dem Rundholzplatz, wo die Stämme in das Sägewerk und auf den Sägeschlitten gerollt wurden, sowie das Abladen der Stämme von den Holztransportern. Vor der Einführung mechanischer Kräne wurden zu diesem Zweck einfach Sperren an den Seiten der Holzlaster entriegelt, so dass die gesamte Ladung auf einmal herunterrutschte. Doch gelegentlich ließen sich die Sperren nicht auf Anhieb lösen, und die Männer mussten sich unter den Laster ducken, um nicht von einer Baumstammlawine zerquetscht zu werden.
    Der Koch war der Ansicht, Angel hätte nicht einmal in die Nähe sich bewegender Stämme kommen dürfen. Doch die Holzarbeiter mochten den jungen Kanadier
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