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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Sozialverhalten gewöhnt, dass seine Miene nie seine momentane Stimmung verrät. Ein kraftstrotzendes, grausames, erbarmungsloses Wesen, das sein Revier beherrscht und keinen anderen Feind fürchten muss als seine Artgenossen – wie vor allem die Bärinnen wissen, die sich alljährlich im Frühjahr gegen ihren männlichen Partner zur Wehr setzen müssen, damit er nicht ihre Jungen verschlingt.
     
    Giovanni hörte sich Dianes Vortrag an, leichenblass und starr vor Furcht. Dennoch hatte er, als sie fertig war, nur eine einzige Frage: »Woher weißt du das alles?«
    Ihre Kehle war wie ausgedörrt, und an ihrem Gaumen haftete ein erdiger Geschmack. »Ich bin Verhaltensforscherin. Seit zwölf Jahren studiere ich die Raubtiere.«
    Der Italiener starrte sie noch immer an. Sie beugte sich vor und sagte eindringlich: »Hör zu, Giovanni. Es gibt keine zehn Menschen auf der Welt, die imstande sind, aus dieser Scheiße hier mit heiler Haut wieder herauszukommen. Jetzt lächle: Denn du hast einen dieser Zehn an deiner Seite.«
    »Aber … Und die Tsewenen … Meinst du nicht, sie werden uns helfen?«
    »Niemand wird uns helfen. Und vor allem nicht die Tsewenen. Das ist ein heiliger Kampf, verstehst du? Auf dieser Lichtung hier sind nur zwei Leute überflüssig: wir. Und die Tiere werden zuerst versuchen, uns aus dem Weg zu räumen. Solange wir nicht vernichtet sind, bleiben sie Verbündete. Erst danach, wenn der Ort von uns gesäubert ist, werden sie gegeneinander antreten.« Sie stand auf und fügte hinzu: »Ich muss einen Bach finden. Um etwas zu überprüfen.«
    Ein Stück tiefer ging der Steilhang wieder in ein Waldstück über. Sie schlichen bis zum Unterholz und drangen dann ins Dickicht der Bäume ein. Wenige Minuten später erreichten sie einen gischtsprühenden Wildbach. Diane kauerte sich nieder. Im aufgewühlten Wasser erkannte sie die silbrigen Leiber der Lachse.
    »Was suchst du denn?«, fragte der Italiener.
    »Ich will wissen, in welche Richtung die Lachse wandern.«
    »Wieso?«
    »Weil der Bär instinktiv diese Richtung einschlagen wird.«
    »Bist du sicher?«
    »Nein. Kein Mensch kann vorhersagen, wie ein Tier reagieren wird.«
    Vor allem nicht bei solchen Tieren, von so besonderer Art, fügte Diane in Gedanken hinzu. Inwieweit wurden sie von ihren tierischen Instinkten geleitet? Und inwieweit von den menschlichen? Worin machte sich der Schamane im Tier bemerkbar? Sie drehte sich um und flüsterte: »Giovanni, du …«
    Vor Entsetzen blieb ihr der Satz im Hals stecken. Giovanni stand einwärts gekrümmt, mit leichenblassem Gesicht und blutüberströmtem Rücken, überschattet von den mächtigen Flügeln des Adlers, der ihm die Fänge in die Schultern geschlagen hatte und schon voller Gier den Schnabel in den Nacken hieb. Diane zückte ihre Waffe. Der Italiener und der Vogel drehten sich im Kreis, ein Flügel streifte ihre Hand und schleuderte die Pistole mehrere Meter fort. Sie stürzte hinterher. Als sie erneut zielte, stand Giovanni schwankend am Ufer des Bachs und ruderte mit den Armen. Sie suchte nach einer Schussrichtung, dann schrie sie absurderweise: »Die Arme runter!«
    Giovanni stürzte mit dem Kopf voraus, aber der Vogel ließ ihn nicht los – er riss ihm mit dem Schnabel einen Fetzen Fleisch aus dem Nacken. Augenblicklich schoss aus der Wunde ein Schwall hellrotes Blut. Diane sah nur den Rücken des Tiers. Unmöglich, aus dieser Position zu schießen.
    Sie mischte sich in den Kampf. Sie schob sich unter den Flügel des Räubers, verbarg sich unter seinen Federn, bis sie mit dem Arm zu dem zuckenden Körper vordrang. Dann drehte sie die bewaffnete Faust um und schoss. Der Vogel richtete sich steil auf, Giovanni brüllte, und Diane drückte noch einmal ab.
    Alles erstarrte, Stille breitete sich aus. Die schwarzen Schwungfedern schwebten in der Luft. Sie schoss noch einmal, und noch einmal, und spürte, wie ihre Hand in die Wärme der Wunde eintauchte. Endlich brach der Adler zusammen und riss Diane und Giovanni in seinem Sturz mit. Bis ans Bachufer rollten die drei ineinander verkeilten Leiber, und erst als sie hörte, wie ein Flügel schwer ins Wasser klatschte, wusste sie, dass es vorbei war.
    Das runde Auge des Raubvogels starrte sie an. Aber die Fänge des Adlers waren noch immer in Giovannis Rücken gekrallt, und die Strömung drohte ihn jeden Moment mitzureißen. Diane steckte die Waffe in den Gürtel und begann hastig, die messerscharfen Klauen aus dem Fleisch zu lösen. Giovanni reagierte
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