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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Erster Teil
     
    D IE ERSTEN A NZEICHEN
     
     
KAPITEL 1
     
    Insgesamt hatte Diane Thiberge genau achtundvierzig Stunden zur Verfügung.
    Vom Flughafen Bangkok musste sie mit einem Inlandsflug nach Phuket Weiterreisen und von dort aus mit einem Leihwagen in nördlicher Richtung nach Takuapa an der Küste der Adamanensee fahren. Dort würde sie eine kurze Nacht im Hotel verbringen und sich um fünf Uhr morgens wieder auf den Weg machen, immer weiter nach Norden. Zu Mittag wäre sie dann in Ranong an der Grenze zu Birma, wo sie noch die Mangrove überwinden musste, um ans Ziel ihrer Reise vorzudringen. Danach brauchte sie nur auf demselben Weg zurückzukehren und am darauffolgenden Abend die Maschine nach Paris zu erwischen. Die Zeitverschiebung arbeitete zu ihren Gunsten – sie würde gegenüber der Pariser Zeit fünf Stunden gewinnen und konnte am Montagmorgen, dem 6. September 1999, wieder im Büro sein. Wie eine Blume.
    Aber die Maschine nach Phuket kam nicht.
    Überhaupt lief nichts wie geplant.
    Mit verkrampftem Magen stürmte Diane zu den Toiletten. Wie eine Welle schwappte die Übelkeit über ihr zusammen, und sie sagte sich: Es ist der Jetlag, mit meinem Vorhaben hat das gar nichts zu tun. Im nächsten Augenblick übergab sie sich, bis ihre Eingeweide ihr in der Kehle brannten. Das Blut hämmerte in den Adern, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn, und das Herz raste, irgendwo und überall in ihrem Körper. Sie musterte sich im Spiegel. Sie war aschgrau. In diesem Land kleiner glatthaariger brünetter Menschen fühlte sie sich mit ihren blonden Locken mehr denn je fehl am Platz, und noch viel absurder war ihre Größe – diese enorme Körpergröße, die ihr seit ihrer Jugend zu schaffen machte.
    Diane wusch sich das Gesicht, säuberte den goldenen Ring im linken Nasenloch, rückte ihre runde Hippiebrille zurecht und kehrte in die Transithalle zurück, umwallt von ihrem weiten T-Shirt wie ein Geist. Der klimatisierte Raum schien ihr eisig.
    Wieder studierte sie die Abflugtafel. Keine Ankündigung für Phuket. Sie ging ein paar Schritte. Ihr Blick fiel auf die überall ausgehängten Warnungen – zweisprachig, auf Thai und auf Englisch: Wer innerhalb Thailands im Besitz harter Drogen verhaftet wird, hat mit dem Tod durch Erschießen zu rechnen. Im selben Moment gingen hinter ihr zwei Polizisten vorbei. Kakiuniformen. Gewehre mit geriffeltem Kolben. Sie biss sich auf die Lippen: Alles an diesem verfluchten Flughafen erschien ihr feindselig.
    Sie setzte sich und versuchte ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. Zum tausendsten Mal an diesem Vormittag ging sie die Einzelheiten ihrer Reise durch. Sie musste es schaffen. Es war ihre Entscheidung. Ihr Leben. Sie konnte nicht unverrichteter Dinge nach Paris zurückkehren.
    Um zwei Uhr nachmittags hob die Maschine nach Phuket endlich ab. Diane hatte fünfeinhalb Stunden verloren.
    Erst hier, in Phuket, erkannte sie die Tropen wieder. Es war eine Erleichterung. Bläuliche Wolkenstreifen zogen sich den Horizont entlang, am Himmel blitzten silberne Feuer. Farblose Bäume flimmerten neben der Landebahn, über die der Staub in aufgeschreckten Spiralen wirbelte. Und dann, vor allem, der Geruch. Der Monsungeruch, heiß, drückend, schwer von Früchten, Feuchte und Fäulnis. Die Trunkenheit des Lebens, wenn es die Schwelle überschreitet und Verwesung wird. Diane schloss die Augen vor Entzücken und hätte sich am liebsten auf der Gangway lang ausgestreckt.
    Sechzehn Uhr.
    Sie hastete zum Schalter der Autovermietung, riss der Angestellten den Schlüssel aus der Hand und lief zu ihrem Wagen. Unterwegs fing es an zu regnen. Zuerst nur ein paar Tropfen, doch gleich darauf folgten wahre Sturzbäche, die auf das Wagendach hämmerten und einen ohrenbetäubenden Lärm erzeugten.
    Gegen die rötliche Schlammflut waren die Scheibenwischer machtlos. Diane klammerte sich mit beiden Händen ans Steuer und fuhr mit der Nase an der Scheibe.
    Achtzehn Uhr. Kurz vor Einbruch der Nacht ließ der Wolkenbruch nach, und die Landschaft funkelte im Abendrot. Leuchtend grüne Reisfelder, braune Häuser auf Pfählen, goldene Büffel mit schmalen, spitzen Hörnern. Dazwischen hin und wieder ein ziselierter Tempel mit geschwungenem Dach … Und über allem der Himmel, von Blitzen gestreift und schwarz marmoriert, über den sich rechts nun ein dunkles Rot ergoss.
    Um zwanzig Uhr erreichte sie Takuapa. Erst jetzt begann sie sich zu entspannen. Trotz der Verspätung, trotz der Panik war sie noch in
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