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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Angeln zu heben schienen. Diane richtete den Blick auf die Stelle, an der ihre Mutter eben noch in Schlaf gesunken war.
    Aus dem pflanzlichen Dickicht ragte die massige Gestalt eines Bären empor. Es war ein dunkelbrauner Grislybär von über zwei Metern Länge, dessen Pelz in tausend Farben schillerte. Der Höcker auf seinem Rücken erinnerte an einen mächtigen Gebirgsausläufer, und sein dunkles Gesicht, in dem zwei noch dunklere Augen blitzten, verriet keine Regung. Ein Weibchen, dachte Diane sofort. Das Tier richtete sich auf und brüllte, wie um die gesamte Taiga zu warnen.
    Diane empfand keine Angst, keine Panik; sie war jenseits aller Gefühle. Sie blickte zur dritten Spitze des Dreiecks hinüber, dorthin, wo Paul Sacher im Gras verschwunden war, und hielt nicht mehr nach dem alten Dandy Ausschau, sondern nach dem gesträubten Rückenfell des Wolfes, des in der sibirischen Taiga heimischen Canis lupus campestris .
    Sie konnte nichts erkennen, doch was ihr häufig bei Expeditionen passiert war, geschah auch jetzt: Sie witterte einen besonderen Geruch in der Luft, den Geruch der Jagd, den Geruch von Hunger und Anspannung. Dann ertönte hinter ihr ein Rascheln, und Diane nahm alles gleichzeitig wahr: den schwarzweißen Körper – schnell wie ein Blitz, die spitze Schnauze, die durch die hohen Gräser pflügte, und die Augen, die schwarz umrandeten Augen, das gierige Funkeln, das den Angriff vorwegzunehmen schien …
    Diane packte Giovanni am Arm und riss ihn mit sich. Sie rannten die Lichtung entlang, fort von den Gebäuden des Reaktors, doch auf einmal schwand der Boden unter ihren Füßen, und sie stürzten einen Abhang hinab, prallten gegen scharfe Felskanten und kamen endlich auf lockerer Erde zum Halt. Sofort betastete Diane den Boden ringsum: Sie hatte wieder ihre Brille verloren. Wenige Meter entfernt befand sich Giovanni in ähnlicher Lage, und allein diese Erkenntnis war niederschmetternd: Sie waren nichts als zwei armselige, elende Menschenwesen, kurzsichtig und verletzlich, die zerschlagen im Staub lagen – eine leichte Beute für die übermächtigen Tiere. Doch als ihre Hände das Brillengestell ertasteten, merkte sie, dass der Wolf verschwunden war.
    Giovanni, der ebenfalls seine Brille wiedergefunden hatte, stammelte: »Was ist denn los? Was passiert da?«
    Diane schätzte die Entfernung ein, die sie von dem Punkt trennte, wo ihre Mutter die Schwelle des Menschseins überschritten hatte: etwa vierhundert Meter. Es war riskant, doch eine andere Lösung gab es nicht. »Warte hier auf mich«, befahl sie und begann auf allen Vieren, an Wurzeln und Felsvorsprünge geklammert, den Hang hinaufzuklettern. »Kommt überhaupt nicht in Frage«, gab Giovanni zurück und folgte ihr.
    Gemeinsam kletterten sie hinauf und drangen erneut in das Gewoge der Gräser ein. Diane besaß sonst keinen sehr ausgeprägten Orientierungssinn, doch der Anblick des Bären hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gebrannt. Durch das Dickicht krochen sie bis zum Ort der Verwandlung. Diane fand die Kleider ihrer Mutter. Sie durchsuchte sie und fand ohne Mühe die Pistole. Eine Glock, Kaliber 45. Sie zog das Magazin aus dem Griff und zählte: fünfzehn Kugeln, eine im Lauf. Sie dachte an die Waffen der beiden anderen: Lohnte es sich, sie ebenfalls zu holen? Nein, zu gefährlich. Ohne ein Rascheln, ohne ein Knacken machten sie kehrt und kletterten den Abhang wieder hinunter.
    Diane überlegte fieberhaft. Die Feinde waren zu dritt. Drei wilde Tiere, von ihrem Jagdinstinkt geleitet. Drei mächtige Tiere mit gewaltiger Kraft und dem Willen zur Vernichtung, ausgestattet mit Intuition und einem hoch empfindlichen Sinnesapparat. Kämpfer in Höchstform, an ihre Umgebung perfekt angepasst. Nein, mehr noch: Sie waren nicht an die Natur angepasst, sie waren die Natur. Sie lebten in vollkommenem Einklang mit ihren Gesetzen, Kräften, Rhythmen. Das war ihr Daseinsgrund. Ihr Wesen.
    Diane drehte sich zu ihrem Gefährten um. »Giovanni«, flüsterte sie, »hör mir gut zu. Unsere einzige Chance, hier wieder rauszukommen, besteht darin, dass wir unsere Umgebung nicht mehr so wahrnehmen, wie ein Mensch sie wahrnimmt, verstehst du?«
    »Nein.«
    »Es gibt nicht einen Wald«, erklärte sie, »sondern so viele Wälder, wie hier Spezies leben. Jedes Tier erlebt und analysiert den Raum entsprechend seinen Bedürfnissen und Sinneswahrnehmungen. Jedes Tier konstruiert sich seine eigene Welt, seine spezifische Umwelt, außerhalb derer es nichts
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