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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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wahrnimmt. Wenn wir unser Leben retten wollen, müssen wir uns die Sichtweise unserer Feinde aneignen. Die Umwelt des Bären, des Wolfes, des Adlers. Denn das ist unsere eigentliche Arena, in der wir kämpfen müssen, nicht diese Landschaft, die wir mit unseren fünf menschlichen Sinnen wahrnehmen. Kapiert?«
    »Aber … aber … wir wissen doch nichts über …«
    Diane konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Seit wie vielen Jahren studierte sie diese Zusammenhänge? Wie tief war sie in die verschiedenen Wahrnehmungssysteme und Kampfstrategien eingedrungen? In beißender Kälte, im schneidenden Wind nahm sie sich die Zeit, das Profil jedes Gegners zu beschreiben.
     
    Der Adler: Der Vogel sieht alles. Sein Auge, röhrenförmig, erlaubt ihm, phantastische Vergrößerungen vorzunehmen. Wenn er in hundert Metern Höhe einen Wald überfliegt, ist er in der Lage, seinen Blick auf ein winziges Nagetier derart zu fokussieren, dass das Bild seine gesamte Netzhaut ausfüllt. In diesem Moment kann er seinen scharfen Blick sogar auf zwei verschiedene Ziele richten. Während er sich einerseits auf seine Beute konzentriert, kann er gleichzeitig den Raum unter seinen Fängen ermessen, um sich auf die Ergreifung vorzubreiten.
    Dabei kommt ihm seine Flügelspannweite – an die drei Meter – sehr zugute. Mit einer Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern stürzt der Adler auf seine Beute herab, doch kurz vorher bremst er in wenigen Sekundenbruchteilen auf Schritttempo ab: in völliger Lautlosigkeit. Die Beute spürt nicht einmal, dass sie stirbt. Schnabel und Fänge graben sich in ihren Nacken, ehe sie auch nur zu zucken vermag.
    Seine einzige Schwachstelle ist seine Abhängigkeit vom Licht. Die extreme Tiefe seines Auges verdunkelt sein Gesichtsfeld, so dass er nur bei hellem Tageslicht sieht. Dieser Adler würde also nur tagsüber angreifen. Beim ersten Anzeichen der Abenddämmerung wäre der Kampf für ihn beendet.
    Das war freilich nur ein schwacher Trost, denn bis dahin würde nichts und niemand seinem scharfen Auge entrinnen.
     
    Der Wolf: Für ihn ist die Nacht die bevorzugte Zeit, hier entwickelt er seine größte Stärke. Zwar sieht der Wolf nur schwarz-weiß, doch verfügt er über eine andere unschlagbare Fähigkeit: eine Schicht aus besonderem Gewebe auf seiner Netzhaut, das so genannte Tapetum lucidum , das ihm selbst bei völliger Dunkelheit ein perfektes Bild seiner Umgebung liefert. Auch verfügt er über eine herausragende Bewegungswahrnehmung: Er ist imstande, auf mehr als einen Kilometer Entfernung eine sich bewegende Hand zu erkennen, ja er erfasst sogar das Ausmaß ihrer Nervosität. Das erste Zeichen von Angst oder Schwäche löst seinen Angriffsreflex aus. Ganz zu schweigen davon, dass er im selben Moment mit seiner feinen Nase die Geruchsmoleküle wittert, die seine Beute mit dem Schweiß, vor allem mit dem Angstschweiß absondert.
    Ja, der Wolf würde die Nacht abwarten, ehe er zum Angriff ansetzte: Diane sagte es sich mehrmals vor, um sich geistig eine Atempause zu verschaffen. In Wirklichkeit war sie sich dessen keineswegs sicher, denn der Wolf hatte sie ja schon verfolgt und wusste genau, wie verwundbar sie waren. Dieser erste Ausfall bewies, dass das Exemplar ein Alpha-Tier war, ein Rudelführer, der nicht zögern würde, beim geringsten Anzeichen von Angst oder Erschöpfung erneut anzugreifen – oder bei der geringsten Verwundung. Diane beobachtete Giovanni, der von Kopf bis Fuß zitterte, und begriff, dass der Canis lupus campestris ihnen wie auf einer Leuchtspur quer durch den Wald folgen würde.
     
    Der Bär: Er sieht so gut wie nichts, und sein Gehör ist auch nicht gerade vorzüglich. Unvergleichlich hingegen ist sein Geruchssinn. Die Oberfläche der Schleimhaut, mit der er Gerüche wahrnimmt, ist hundertmal größer als beim Menschen. Der Grisly ist in der Lage, allein aufgrund seiner Witterung auf mehr als dreihundert Kilometer Entfernung seinen Weg wiederzufinden oder eine winzige Geruchsspore im Wind wahrzunehmen, während er durch einen tosenden Wildbach schwimmt.
    Die größte Gefahr droht allerdings auf anderem Gebiet: Es ist die gewaltige Kraft des Bären. Der Grisly ist das stärkste Tier der Welt. Er ist imstande, mit einem einzigen Prankenhieb eine Wirbelsäule zu brechen oder einem Karibu mit einem einzigen Biss seiner mächtigen Kiefer die Gliedmaßen zu zermalmen. Der Bär ist ein Tier, dem man um jeden Preis aus dem Weg gehen muss. Ein Einzelgänger, so wenig an
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