Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
…«
    Diane dachte an die Klinge, die der Angreifer auf dem Klosterdach unter der Zunge aufbewahrt hatte. Sie dachte an die Bärenküsse ihrer Kindheit, dieses kurze, knappe Lecken mit rauer Zunge, schon damals mit einer mörderischen Last befrachtet. Schon damals.
    Mawriski verließ den Raum. Am Fuß der Treppe drehte er sich um. »Es ist Zeit«, wiederholte er.
    »Nein!«, protestierte Diane und wandte sich erneut an ihre Mutter: »Noch eins … Das Wichtigste für mich.« Sie starrte die zarte weiße Gestalt mit der roten Mütze an. »Wer hat die Botschaft in die Finger der Kinder eingebrannt? Wer hat euch hierher bestellt?«
    Sybille schien überrascht. »Niemand – was denkst du denn!«
    »Es muss doch jemanden geben, der den Kindern das Datum eingebrannt hat!«
    »Niemand hat die Kinder angerührt. Sie sind heilig.«
    Diane hatte das Gefühl, dass ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Sie riss sich zusammen. »Wer hat das Datum für den Kampf festgelegt?«, fragte sie.
    Mit einer wegwerfenden Geste antwortete ihre Mutter: »Du hast nichts von unserer Geschichte begriffen. Wir haben einen Pakt mit höheren Mächten geschlossen.«
    »Mit was für Mächten?«
    »Mit den Geistern der Taiga. Den Mächten, die unser Universum beherrschen.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Es ist das Geheimnis unserer Initiation. Der Geist existiert vor der Materie. Der Geist wohnt jedem Atom, jedem Kernteilchen inne. Der Geist ist die Partitur des Universums. Die immaterielle Kraft, aus der die konkrete Wirklichkeit hervorgeht.«
    »Ich verstehe immer noch nicht!«
    Die Stimme ihrer Mutter wurde sanfter: »Denk doch an die Finger der Wächter. Denk an die körperlichen Anomalien von Thomas, van Kaen, Jochum … Denk an den Krebs, der aus deinem Bauch hervorgebrochen und auf das Tier übergegangen ist …«
    Diane wurde es schwarz vor Augen. Sie sah die Male an den Körpern der Forscher, ihre verstümmelten, atrophierten Körper, von denen sie geglaubt hatte, sie würden von einer Zwangsvorstellung, einem perversen Willen beherrscht – jetzt wusste sie, dass sie sich getäuscht hatte.
    »Der Geist kontrolliert den Leib«, wiederholte ihre Mutter. »Das ist unser Fluch: Wir leben jenseits der Materie. Und wir sind zurückgekehrt, um die letzte Verwandlung durchzumachen.«
    »Welche … Verwandlung?«
    Das Gelächter der Frau hallte durch den gewaltigen steinernen Ring: »Hast du das Gesetz des Konzils nicht begriffen, Kind? Hast du nicht begriffen, dass alles wahr ist?«
     
     
     
KAPITEL 72
     
    Die hohen Gräser schienen mit ihren dünnen Halmen den staubgrauen Wind zu liebkosen, während sie sich in der Morgensonne langsam glutrot färbten. Die drei Schamanen traten auf die Mitte der Lichtung, der alaa , hinaus und zogen sich dann voneinander zurück, wobei sie sich gegenseitig stets im Auge behielten und sich mit wachem Argwohn bewegten, bis sie die drei Eckpunkte eines gleichschenkeligen Dreiecks bildeten. Diane war mit Giovanni im Hintergrund geblieben und beobachtete das Geschehen von einem kleinen Hügel aus. Die Kontrahenten hatten nur noch ihren Kampf im Sinn und scherten sich nicht mehr um sie.
    Diane versuchte die einzelnen Personen auf der Lichtung zu erkennen, doch bald sah sie nur noch ein grünes Wogen geneigter Halme, das sie nach und nach zu verschlingen, aufzusaugen, aufzulösen schien. Als die drei Gestalten mehr als hundert Meter voneinander entfernt waren, trat eine Reglosigkeit ein, eine steinerne Starre. Eine Atempause im Hauch des Morgens.
    Die drei Schamanen entkleideten sich. Diane sah die bleiche Haut, die knochigen Extremitäten. Instinktiv konzentrierte sie sich auf ihre Mutter. Sie sah die runden, muskulösen Schultern zwischen dem Gewoge der Pflanzen, sah die weißen Haare im Wind flattern. Dann erkannte sie, dass die ganze bebende, flackernde Gestalt in die Bewegung der Lichtung mit einstimmte, und es sah aus, als sei ihre Mutter im Begriff einzuschlafen. Sie glitt in jenen gedämpften, halb wachen Zustand hinüber, der die Voraussetzung war, um die spirituelle Brücke zu den Geistern zu schlagen …
    Noch immer weigerte sich Diane, die Wahrheit zu akzeptieren, bis das Unmögliche eintrat.
    Ein Schatten streifte sie. Sie sah auf. Zehn Meter über ihr glitt ein gewaltiger Adler über die Lichtung hinweg, ein gefiedertes Kreuz, in Lauerstellung an den Himmel geheftet. In der nächsten Sekunde ertönte ein markerschütterndes Brüllen, dessen tiefe Töne das Fundament der Erde aus den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher