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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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drückte sie ab. Sie sah die Schädeldecke in blutigen Trümmern zerbersten und schoss noch einmal. Das Gehirn spritzte in den Himmel hinauf. Sie schoss und schoss, entleerte das gesamte Magazin in den Schädel und drückte auch dann noch ab, als ihre Geste nur noch ein leises Klicken bewirkte, das im Knurren des Ungeheuers unterging. Und sie meinte noch immer zu schießen, als der tote Bär sie bei seinem Sturz in den Wildbach mitriss.
     
     

 
EPILOG
     
    Die Sonne breitete sich im Raum aus wie flüssiger Honig.
    Die Holztäfelung des Büros schimmerte schokoladenfarben, die Dielen des Parketts blitzten goldbraun, als wären sie mit Tee gebeizt worden. Der ideale Rahmen für ein Frühstück, wenn noch die Stimmung des Erwachens in der Luft hängt, erfüllt von Träumen und unbestimmten Gefühlen.
    »Ich verstehe nicht ganz«, wiederholte die Frau. »Sie wollen den Vornamen Ihres Sohnes ändern lassen?«
    Diane nickte. Sie befand sich im Standesamt des Rathauses im fünften Arrondissement in Paris.
    »Das ist ein Antrag, der bei uns nicht sehr häufig gestellt wird.«
    Die Standesbeamtin konnte den Blick nicht von dem verbundenen Arm, den Narben im Gesicht ihres Gegenübers wenden. Sie schlug eine Aktenmappe auf und murmelte: »Und ich weiß auch überhaupt nicht, ob das geht …«
    »Lassen Sie’s bleiben.«
    »Wie bitte?«
    Diane stand abrupt auf. »Ich sagte, lassen Sie’s bleiben. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es will. Ich rufe Sie wieder an.«
    Draußen vor dem Gebäude blieb sie stehen und atmete die kalte Dezemberluft ein. Sie betrachtete die Lichtgirlanden, die sich über die Place du Pantheon wanden. Sie liebte diese altmodische Zerbrechlichkeit der Weihnachtsdekoration vor der erhabenen, massigen Fassade des Pantheon.
    Sie ging die Rue Soufflot entlang und griff den Faden ihrer Gedanken wieder auf. Seit Tagen lebte sie mit der fixen Idee, sie müsse Lucien die Vornamen der beiden Männer geben, die wegen des steinernen Konzils ihr Leben gelassen hatten. Aber erst im Gespräch mit der Standesbeamtin war ihr die Absurdität ihres Vorhabens so recht zu Bewusstsein gekommen.
    Lucien war keine Marmortafel, in die man die Namen verstorbener Helden eingravieren konnte. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihr die Namen gar nicht gefielen – weder Patrick noch Giovanni. Vor allem wollte sie keinen symbolischen Akt nötig haben, um sich an die Freunde zu erinnern, die sie bei ihrem schrecklichen Abenteuer verloren hatte. Sie würden für immer in ihrer Erinnerung weiterleben, als die letzten unschuldigen Opfer in der Geschichte des Tokamak.
     
    Bei ihrer Rückkehr nach Paris war es Diane nicht schwergefallen zu beweisen, dass sie mit dem Mord an Patrick Langlois nichts zu tun hatte. Ohnehin hatte sie niemand im Verdacht gehabt, ebenso wenig wie sie des Massakers in der Stiftung Bruner oder bei dem »Selbstmord« von Irène Pandove verdächtigt worden war. Man war lediglich verwundert über ihre vorgebliche Flucht nach Italien. Der Fall war inzwischen zu den Akten gelegt worden. Der Ermittlungsrichter hatte ihn mit der verworrenen Hypothese einer Abrechung zwischen kommunistischen Überläufern im Zusammenhang mit einem Kernforschungsprojekt abgeschlossen.
    Die zentrale Rolle, die Sybille Thiberge in diesem Fall spielte, hatte niemand erkannt, obwohl sie seither verschwunden war. Nach anfänglicher Sorge war Charles Helikian davon ausgegangen, seine Gattin habe sich mit einem Liebhaber aus dem Staub gemacht. Diane traf sich hin und wieder mit ihm; dann sprachen sie über das rätselhafte Verschwinden der Mutter und Ehefrau, und Diane entwickelte die Theorie von einem geheimen Doppelleben. Ihre Mutmaßungen stürzten Charles in einen Abgrund der Ratlosigkeit – den Diane freilich für das geringere Übel hielt: Sie hatte andere Abgründe und andere Wahrheiten kennengelernt, die sie ihm um nichts auf der Welt eingestanden hätte.
    Sie überquerte die Place Edmond-Rostand und betrat den Jardin du Luxembourg. Sie ging an der Einfassung des Wasserbeckens entlang und stieg dann die Stufen hinauf, die zum Gelände des Marionettentheaters, zum Kiosk, zu den Schaukeln führten. Unter den kahlen Zweigen der Kastanien sah sie einen steinernen Kreis und dachte an den Tokamak, das kreisförmige Labor unter dem Reaktor, an die sieben Schamanen, die mit den Geistern paktiert und dafür ihre Seele verkauft hatten. Aber der Kreis hier war nur ein runder Sandkasten, in dem Kinder in Kapuzenmänteln
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