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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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nicht mehr. Als sie ihn befreit hatte, sah sie, dass die Schrunden und Risse weniger tief waren als befürchtet. Doch es half nichts – die Wunde im Nacken war tödlich. Das Blut floss stoßweise heraus. Diane schnürte es vor Schmerz und Entsetzen die Kehle zu. Doch sie stand auf und spannte von neuem ihre Muskeln. Sie musste sich jetzt ausschließlich auf den Kampf konzentrieren.
    Ein neuer beängstigender Gedanke kam ihr in den Sinn: Der Blutgeruch, das unmissverständliche Anzeichen von Verletzlichkeit, würde bald den Wolf anlocken; diese Geruchsquelle galt es nach Möglichkeit zu unterdrücken. Zwanzig Meter hangaufwärts entdeckte sie eine hölzerne Fläche, die sich deutlich von der Bodenstruktur des Bachufers abhob. Sie rückte ihre Brille zurecht und ging auf die dunkle Platte zu: Es war eine Höhle, drei Meter lang, mit fünf schwarzen Planken abgedeckt.
    Mit großer Anstrengung hob sie eine Bohle an. Die Grube darunter war etwa einen Meter tief und mit einem dichten Geflecht aus Zweigen ausgekleidet. Vielleicht hatten sie die Fischer vom Weißen See angelegt, um darin ihren Fang zu trocknen, es war jedenfalls ein perfekter Zufluchtsort. Diane kehrte zu Giovanni zurück, schob ihm beide Hände unter die Achseln und zog. Giovanni schrie auf. Mit schweißüberströmtem Gesicht begann er Litaneien hervorzusprudeln, die Diane einen Moment lang für lateinische Gebete hielt. Doch sie irrte sich, es war eine Wehklage in seiner Muttersprache. Sie zerrte ihn bis zu dem Versteck, bemüht, sein Ächzen und Stöhnen zu überhören. Unmerklich bog sie sich ihre eigene Umwelt zurecht – ein System der Wahrnehmungen und Reaktionen, die auf die unmittelbare Situation zugeschnitten und auf ein einziges Ziel ausgerichtet waren: zu überleben.
    Sie hob eine weitere Planke hoch, kletterte in die Ausschachtung hinunter, dann zog sie Giovanni nach und schloss den Deckel über ihnen. Dunkelheit umgab sie. Nur durch die haarfeinen Ritzen zwischen den Brettern drang ein wenig Licht. Es war der ideale Ort, um abzuwarten. Worauf wartete sie? Diane wusste es nicht. Aber sie konnte sich hier zumindest eine neue Strategie ausdenken. Sie legte sich neben Giovanni, schob ihm einen Arm unter den Kopf und drückte ihn an sich, als wäre er ein Kind. Mit der anderen Hand streichelte sie sein Gesicht, umarmte und liebkoste ihn – es war das erste Mal, dass sie freiwillig die Haut eines Mannes berührte. Für die traumatischen Zwänge ihres Alltags war jetzt kein Platz mehr in ihr. Unaufhörlich flüsterte sie ihm ins Ohr: »Es wird schon wieder, es wird wieder …«
    Auf einmal ertönten tapsende Schritte über ihnen, vermischt mit hechelndem Atem. Der Wolf. Er lief auf dem Holz hin und her, presste die Schnauze an die Ritzen und sog sich mit dem Blutgeruch voll.
    Diane drückte Giovanni noch fester an sich. Ununterbrochen murmelte sie in Babysprache auf ihn ein und versuchte die Tritte des Wolfes zu übertönen, der immer rascher, immer rasender über ihnen hin und her lief und mit Pfoten und Krallen an der Rinde kratzte, wenige Zentimeter von ihren Gesichtern entfernt.
    Auf einmal sah sie zwischen den Planken die weiß-schwarze Schnauze, gespannt, aufmerksam, gierig. Sie sah das grüne Funkeln der Augen, und Giovanni stammelte: »Was ist das?« Diane flüsterte weiter beruhigende Worte, während sie darüber nachdachte, wie lange die Planken halten würden: Wie lange würde es dauern, bis das Tier sich einen Durchschlupf gegraben hatte? »Was ist das?« Ein heftiger Schüttelfrost ergriff Giovannis Körper. Sie presste ihn an sich mit aller Kraft, und mit der anderen Hand langte sie nach der Glock.
    Es war unmöglich zu schießen. Die Holzbretter waren zu dick – niemals konnten die Kugeln sie durchschlagen, eher würden sie abprallen und sie selbst durchlöchern. Ein neues Geräusch ertönte, ein regelmäßiges, hastiges Scharren am unteren Ende der Grube. Diane spähte angestrengt in die Dunkelheit und erkannte, dass der Wolf nun das Erdreich aufgrub, um sich auf diese Weise Zugang zu verschaffen. In wenigen Sekunden musste er am Ziel sein: Dann würde er sich mit seinem gelenkigen Körper in die Grube schlängeln und seine Fänge in ihr Fleisch schlagen.
    Schon war das Loch so groß, dass der erste Lichtstrahl hereinfiel, und sogleich folgten die Klauen des Tiers, die wie rasend gruben. »Diane, was ist das?«, fragte Giovanni heiser und versuchte den Kopf zu heben, doch sie hielt ihn mit einer Hand auf der Stirn zurück. Sie
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