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Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Titel: Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
Autoren: Harald Haarmann
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Die Spur der Sprachen:
Forschung und Mythos
    Verwandtschaften. Als William Jones im Jahre 1786 in einem Vortrag vor der «Asiatick Society» in Calcutta die Ähnlichkeit des Sanskrit mit dem Griechischen, Lateinischen und anderen Sprachen herausstellte, konnte er nicht ahnen, dass er damit eine Bewegung auslösen würde, die Generationen von Forschern beschäftigt hat und bis in unsere Zeit für wissenschaftlichen Zündstoff sorgt. Jones war nicht der Einzige, der sich zum Sprachvergleich äußerte. Hinweise auf die Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen Indiens und Europas finden sich bereits im 16. Jahrhundert, und einige Zeitgenossen von Jones hatten auf Ähnlichkeiten im Sprachbau von Sanskrit und verschiedenen Sprachen Europas bereits früher aufmerksam gemacht. Im Jahre 1767 hatte der französische Jesuit Coeurdoux dem «Institut Français» in Paris eine Studie über lexikalisch-grammatische Vergleiche zwischen Sanskrit und Latein übermittelt. Diese Studie blieb aber lange unbeachtet und wurde erst vierzig Jahre später gedruckt (Seuren 1998: 80). Auch in der umfangreichen Sprachenenzyklopädie von Lorenzo Hervás y Panduro (1784–87), der nach den Ursprachen (
matrices
) suchte, sind bereits erste, wenn auch nebulöse Konturen vom Komplex der indoeuropäischen Sprachen zu erkennen.
    In der damaligen Zeit stützte man sich bei Beobachtungen zur Verwandtschaft von Sprachen überwiegend auf Wortvergleiche, und intuitiv erkannte man, dass Sanskrit m
atár,
griechisch
meter,
lateinisch
mater,
englisch
mother
u.a. ähnlich lautende Ausdrücke irgendwie zusammengehören. Aber woher kommt das? Eine Sprachverwandtschaft allein auf Wortvergleiche zu stützen, ist viel zu oberflächlich, um verlässlich zu sein. Dabei kann man auch in eine Sackgasse geraten, und es «fehlen» Wörter, die man eigentlich erwartet. Beispielsweise gibt es zum erwähnten Stammwortfür ‹Mutter› kein verwandtes Äquivalent im Gotischen. Dies kann nur bedeuten, dass das aus der indoeuropäischen Grundsprache stammende Erbwort in der Tochtersprache durch einen anderen Ausdruck ersetzt wurde: Das gotische
aithei
leitet sich vermutlich von der Wurzel
∗ at-
her, die wie ähnliche Bildungen auf ∗
an-, ∗ ak-
und ∗
n-an
als Reflexe von Lallwörtern der Kindersprache erklärt wird (z.B. hethit.
annas,
alb.
nënë,
altind.
akka ‹Mutter›); aithei
ist später als
äiti
‹Mutter› ins Finnische entlehnt worden.
    Forschung zur Sprachverwandtschaft wird erst dann sinnvoll, wenn es gelingt, Ähnlichkeiten nicht nur im Wortschatz, sondern auch im Lautsystem, im grammatischen Bau und in der Syntax aufzuspüren und zu belegen. Von einfachen Wortvergleichen zur komparatistischen Analyse ganzer Sprachsysteme ist es ein langer Weg. Wenn nun also Sanskrit, Griechisch und Lateinisch irgendwie ähnlich erscheinen, wie kommt es dann, dass das Sanskrit und die damit verwandten Sprachen Indiens offensichtlich weiter entfernt von den anderen sind? Diese Frage stellten sich die europäischen Sprachforscher im 19. Jahrhundert, und sie fanden darauf eine typisch europäische Antwort. Im Zeitalter des Nationalismus, als Völker aufgrund der Sprachen identifiziert wurden, die sie sprachen, kreierte man für jede der verwandten Sprachen ein Volk. Da gab es dann die alten Inder, die Perser, die Griechen und Römer usw. Aber schon bei der Identifizierung der lateinischsprechenden Bevölkerung mit den Römern verstrickte man sich in unlösbare Widersprüche. Die Römer als Volk hat es nie gegeben, im weitest entwickelten Sinne waren alle freien Untertanen des Imperium Romanum «Römer». Und es waren viele Völker, die Lateinisch sprachen: nicht nur die Latiner, sondern auch alle anderen italischen Völker, sodann zahlreiche indoeuropäische (Veneter, Gallier, Daker, Illyrer u.a.) und nichtindoeuropäische (Etrusker, Ligurer, Iberer, Numider u.a.) Völker, die sich sprachlich assimilierten. Und die Völker – auch die, die es gar nicht gab – ließ man wandern, mal von Indien nach Europa, mal auch in umgekehrter Richtung. Die Ergebnisse solcher «Völkerverschiebungen» blieben aber letztlich unbefriedigend, und das aus gutem Grund.
    Das Verhältnis zwischen Sprachen und Völkern lässt sich nicht auf eine einfache Gleichung bringen. Jahrzehntelange Forschung war nötig, um Klarheit über die Beziehung der verwandten Sprachen und Kulturen zu den Populationen zu schaffen, die damit leben. In vielen Fällen hat erst die moderne Humangenetik verlässliche
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