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Liebesnächte in der Taiga

Liebesnächte in der Taiga

Titel: Liebesnächte in der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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    Jeden Morgen pünktlich um 9 Uhr erhielt Matweij Nikiforowitsch Karpuschin seine Liste. Ein Adjutant im Rang eines Leutnants brachte sie in einer ledernen braunen Mappe, grüßte mit der eckigen Ehrenbezeigung der sowjetischen Armee, sagte: »Guten Morgen, Genosse Oberst!« und klappte die Mappe auf. Und jeden Morgen wiederholte sich dann das gleiche: Oberst Karpuschin klemmte seinen altmodischen Kneifer auf die etwas gerötete und großporige Nase und kratzte sich den Haaransatz. Auf den Kneifer verzichtete er nicht, obgleich ein anderer Kneiferträger, der Genosse Außenminister Molotow, in Ungnade gefallen und in die Mongolei verbannt worden war. »Wozu eine Brille tragen?« sagte Karpuschin einmal. »Schon mein Vater sah durch einen Zwicker! Und er machte den Sturm auf Sewastopol mit.« Ein überzeugendes Argument.
    Mit einem langen Blick überflog Karpuschin die Liste, zählte stumm mit dem Zeigefinger die Namen und hob seinen runden Kopf. Karpuschin trug einen unmodernen braunen Anzug mit weiten Hosenbeinen, ein hellblaues Hemd aus Baumwolle und einen roten Schlips. Olga Jelisaweta, seine Frau, hatte ihn ihrem Mann zum ›Tag von Väterchen Frost‹ geschenkt, wie man heute Weihnachten nannte. Ein Schlips, der bald in der Sektion III – Überwachung Tourismus Westeuropa I – berühmt und berüchtigt war, denn des roten Schlipses wegen wurde der Feldwebel Jemeljan Alexejewitsch Schamow zu einem Feldkommando strafversetzt. Beim unvorsichtigen Anschneiden einer Knackwurst war die Wurstbrühe in hohem Bogen über den Tisch und dem Obersten Karpuschin auf die rote Zierde gespritzt.
    »Etwas Besonderes, Kusma Mironowitsch?« fragte Karpuschin, nachdem er mit dem Zählen der Namen fertig war. »Neunundsiebzig! Flug 45 von Warschau.«
    »Eigentlich nicht, Genosse Oberst«, antwortete der Adjutant.
    Es war warm in dem großen Zimmer. Schon seit dem frühen Morgen lag die Luft über Moskau wie ein Dach aus glühendem Blei. Zu Tausenden fuhren die Moskauer in den Gorkij-Zentralpark, ins Freibad am Kropotkin-Kai und zu den schwimmenden Restaurants am Ufer der Moskwa, um sich zu sonnen und zu baden. Es war der erste heiße Tag, und er war plötzlich gekommen, wie so vieles in Rußland plötzlich kommt.
    Leutnant Kusma M. Fettisow wartete auf das, was sich ebenfalls jeden Morgen wiederholte: Der Oberst nahm einen Rotstift und kreuzte einige Namen an. Kleine, zierliche rote Kreuze – aber sie bedeuteten, daß diese Personen, von dem Augenblick an, da sie sowjetischen Boden betraten, nicht eine Stunde mehr allein sein würden.
    Das Gespräch fand im Zimmer eines Eckhauses an der Lubian-Avenue und der Kujbischewa statt. In diesem Haus regierte das Ministerium für Staatssicherheit. Oberst Karpuschin war der Leiter der Sektion III des KGB – des Sicherheitsdienstes, der schon früher unter Bezeichnungen wie GPU oder NKWD in der Welt bekannt und gefürchtet war. Über seinen Schreibtisch gingen alle Namen von westlichen Ausländern, die auf den drei Moskauer Flugplätzen Wnukowo, Bykowo und Scheremetjewo landeten. Karpuschin war die letzte Instanz.
    Matweij Nikiforowitsch sah in seinem braunen Anzug und seinem Zwicker auf der Nase wie ein biederer Beamter aus. Aber das täuschte. Im Großen Vaterländischen Krieg war er mehrfach hoch ausgezeichnet worden, hatte vor Stalingrad in einem Erdbunker am Steilhang der Wolga gelegen und war bekanntgeworden durch einen Tagesbefehl Stalins, in dem es hieß: »Der Genosse Major Karpuschin eroberte mit zwölf Mann Gardeinfanteristen die Bahnlinie nach Beketowka zurück.« Er war also ein ganzer Kerl, dieser Karpuschin, auch wenn er aussah wie ein Kanzleischreiber. Das gerade machte ihn so gefährlich für alle, die in sein Blickfeld traten. Er war freundlich und väterlich – nur, was dabei herauskam, war berüchtigt im ganzen Ministerium.
    Leutnant Fettisow räusperte sich. Der Rotstift lag noch nicht in Karpuschins Hand, und das war verwunderlich. Statt dessen blickte der Oberst auf einen Namen und legte seinen Zeigefinger darauf.
    Franz Heller, las Leutnant Fettisow. Handelsvertreter. Bonn, Hallbergerstraße 19. Geboren am 27. Juni 1919 in Groß Bliden, Kreis Riga.
    »Es liegt eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Botschaft in Rolandseck vor, Genosse Oberst«, sagte Leutnant Fettisow. »Herr Heller vertritt die Interessen einer Schweizer Seidenspinnerei. Er kommt nach Moskau, um über den Export mongolischer Seiden zu verhandeln.«
    Matweij Nikiforowitsch Karpuschin nickte
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