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Der Spion und der Analytiker

Der Spion und der Analytiker

Titel: Der Spion und der Analytiker
Autoren: Liaty Pisani
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lösen.
    Was aber bedeutete nun ihre Flucht? War sie gezwungen worden, Wien zu verlassen, oder handelte es sich um eine der zahlreichen Inszenierungen, die hysterische Patienten so lieben? Und wer war dieser Lasko, Pharmahersteller an der Spitze eines mächtigen Konzerns, hervorragender Golfspieler, schlechter Ehemann, mäßiger Liebhaber und Sammler von Sportwagen? Guthrie mußte sich eingestehen, daß er wenig über ihn wußte.
    Wütend nahm er seinen Regenmantel vom Kleiderhaken. Es war schon spät, er mußte zum Kongreß. Als er gerade die Tür seiner Praxis öffnete, klingelte das Telefon. Er war mit einem Satz am Apparat.
    »Hallo«, brüllte er. Und am anderen Ende der Leitung wurde eingehängt.
     
     
    Das Publikum füllte das Auditorium maximum der Universität. Der Diskussionsleiter auf dem Podium richtete das Mikrofon, wobei ein leises Knacken im Saal zu hören war. Durch die doppelbögigen Fenster drang klares Licht herein, das Regen ankündigte.
    »Sehr geehrte Kollegen«, hob der Diskussionsleiter an. »Wir beginnen unseren Nachmittagszyklus mit einer schmerzlichen Nachricht: Professor Mayer, der hervorragende Psychiater, seit vielen Jahren Mitglied der internationalen Psychoanalytikergesellschaft und Verfasser grundlegender Schriften, ist von uns gegangen …«
    Im Publikum erhob sich ein Raunen.
    »Ein dramatischer Unfall hat ihn seiner Familie, der Wissenschaft und uns allen entrissen.«
    Die Geräusche im Saal wurden lauter. Die Kongreßteilnehmer unterhielten sich miteinander, einige erhoben sich, um zu ihren Kollegen zu gehen.
    Ogden beobachtete seinen Nachbarn. Guthrie hatte sich nicht von der Stelle gerührt, er wirkte sehr betroffen.
    »Ach, der Ärmste!« sagte Guthrie und faßte mit der Hand an die Stirn.
    Ogden ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen.
    »Haben Sie ihn gekannt?« fragte er anteilnehmend.
    Guthrie wandte sich um.
    »Was sagten Sie?«
    »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht stören. Ich habe gefragt, ob Sie ihn kannten …«
    Guthrie nickte. »Ja, natürlich. Wir kennen uns alle, mehr oder weniger. Aber …«
    »Aber Dr. Mayer war ein Freund von Ihnen, nicht?«
    Ogden wartete vorsichtig ab.
    Guthrie sah ihn verstimmt an, er schien sich gegen diese Einmischung wehren zu wollen, aber dann überlegte er es sich doch anders.
    »Ja, ein sehr lieber Freund.«
    Er erhob sich. Ogden sah, wie er sich einen Weg durch die Menge bahnte, um sich einer Gruppe von Kollegen anzuschließen. Er redete ein paar Minuten mit ihnen, dann kehrte er mit verschlossener Miene zurück.
    »Haben Sie etwas Näheres erfahren?«
    »Es war ein Unfall, er ist die Treppe hinuntergefallen«, erwiderte Guthrie unwillig, nahm seinen Regenmantel vom Sitz und wandte sich dem Ausgang zu.
    Ogden wartete zwei Minuten, dann folgte er ihm an die Theke. Der Doktor trank in Gesellschaft eines Kollegen Kaffee. Ogden entdeckte zwei Telefonkabinen, wählte diejenige, von der aus er Guthrie im Blick behalten konnte, und rief Franz an.
    »Ich will alles über Professor Mayer wissen«, sagte er zu dem Agenten. »Ich erwarte den Bericht heute abend im Hotel.«
    Er hängte ein und kehrte in den Vortragssaal zurück. Nach wenigen Minuten setzte sich Guthrie neben ihn. Der Diskussionsleiter kündigte einen Redner an.
    Der Mann, der nun das Podium bestieg, war verblüffend winzig. Uralt und mit schneeweißem Haar, schien er sich kaum auf den Beinen halten zu können. Er stützte sich auf den Tisch und fing an zu reden.
    »Meine Herren, ich möchte unseres lieben Freundes Mayer gedenken. Ich bin, wie Sie alle, von der Nachricht seines Todes tief erschüttert, zugleich aber davon überzeugt, daß wir sein Gedächtnis am besten ehren, wenn wir die Arbeit dieses Kongresses in seinem Sinne fortsetzen: mit klarem Verstand und ohne uns von Emotionen leiten zu lassen, die von einem so schlimmen und schmerzlichen Ereignis wie diesem ausgelöst werden können.«
    Er räusperte sich und ließ den Blick durch den Saal schweifen, bevor er weitersprach.
    »Offen gestanden habe ich mir in meinem ganzen langen Leben niemals vorgestellt, daß ich eines Tages die Menschen aufs Sterben vorbereiten müßte anstatt aufs Leben; aber das Schicksal hat mir diesen beispiellos grausamen historischen Augenblick nicht erspart. Die Menschheit kämpft gegen eine unbekannte und unheilbare Seuche. Nach unseren bisherigen Berechnungen wird innerhalb der nächsten zehn Jahre die Hälfte der Menschheit von dieser Seuche dahingerafft. Wie Sie wissen, sind die
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