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Der Spinnenmann

Der Spinnenmann

Titel: Der Spinnenmann
Autoren: Terje Emberland
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gefragt, wie du derzeit schläfst.«
    Als ich mit der Antwort zögerte, legte er den Spaten weg, richtete sich auf und musterte mich mit strengem Blick.
    »Es bringt nichts, darüber nachzugrübeln, Erik«, sagte er.
    Wie immer überraschte es mich, wie viel er verstanden hatte. Ohne, dass auch nur ein Wort gefallen wäre, begriff er, dass meine schlimmsten Verletzungen nicht die gebrochenen Knochen waren. In der ersten Zeit im Krankenhaus hatten die Erinnerungsbilder mich Tag und Nacht heimgesucht. Jetzt erschienen sie langsam als unwirklich. Vermutlich lag das daran, dass ich niemandem von meinen Erlebnissen erzählt hatte und auch nicht zur Verantwortung gezogen worden war, weder von Polizei noch von Presse oder Bekannten. Mr. Georges Kommentar löste in mir eine Lawine aus. Aufgestaute Trauer, Wut und Schuldgefühle wollten aus mir heraus. Ich erzählte ihm alles.
    Er saß stumm auf der Verandatreppe und starrte den Boden an. Als ich endlich fertig war, steckte er sich die Pfeife an und räusperte sich.
    »Das ist einfach viel zu groß, Erik«, sagte er seufzend. »Zu groß für dich und mich. Nein, du musst versuchen, einen Schlussstrich zu ziehen. Es wäre nicht das erste Mal. Es war viel schwieriger, mit dem Tod deines Bruders fertigzuwerden, aber du hast es doch auf irgendeine Weise geschafft.«
    Als er sah, dass ich zögerte, fügte er hinzu: »Vielleicht könntest du es aufschreiben? Mir hat das oft geholfen, wenn ich starke Eindrücke verarbeiten musste.«
    »Vielleicht«, sagte ich. »Aber das wird nicht so einfach.«
    Dann wechselte Mr. George das Gesprächsthema. »Wann kommt der Gips runter?«
    »In zwei Wochen.«
    »Ausgezeichnet.« Er wischte sich die Knie ab und zog seine Jacke an. »Dann erwarte ich dich im Büro. Wir haben einen Tipp über eine schwedische Bande bekommen, die angeblich in Ostnorwegen operiert. Sie scheinen die Nachfolge von Birger Bay und seinen Kumpanen anzutreten. Brandstiftung und Versicherungsschwindel in großem Stil. Da haben wir einiges zu tun.«
    Er zeigte mit der Pfeife auf das Blumenbeet. »Die brauchen Wasser und Dünger.«
    Als er schon zum Gartentor ging, blieb er plötzlich stehen.
    »Ach, übrigens. Das ist vor zwei Tagen für dich gekommen.«
    Mr. George zog einen Briefumschlag aus seiner Jackentasche und reichte ihn mir. Dann ging er den Hang zum Akerselv hinunter.
     
    Der Umschlag aus dickem, cremefarbenen Papier stammte von der Anwaltskanzlei Schoenfeld, Hoenigsberg und Schoenfeld, 21 Fleet Street, London. Er war adressiert an »Mr. Erik Erfjord, Arbeiderbladet, Oslo.« Drinnen steckte ein weiterer Umschlag. Ich zog einen zehn Seiten langen Brief hervor, verfasst in elegantem Hochdeutsch und mit schwungvoller Handschrift.
     
    Dr. Jaroslav Kubin Spiegelgasse 3 Zürich
     
    Lieber Herr Erfiord,
    wie Sie sicher verstanden haben, gehören die Ereignisse des vergangenen Jahres zu einem komplizierten Spiel, das sich über lange Zeit und in vielen Ländern entwickelt hat. Es ist Ihnen vielleicht ein Trost zu wissen, dass viele, wie Sie, davon gefangen wurden, ohne ihr Wissen oder ihre Schuld.
    Was mich angeht, so liegt es am Bild der Matronita.
    Als kleiner Junge flößte es mir ein Gefühl des Unbehagens ein. Es hing im Arbeitszimmer meines Vaters, zwischen Papst Pius IX und dem Heiligen Wenzel. Ich fand, es gehöre nicht in diese fromme Gesellschaft. Die Frau auf dem Bild trug ein tief ausgeschnittenes Kleid mit Spitzenkante und einen kleinen Strohhut mit einer Straußenfeder. Die großen Augen in dem konturenlosen Gesicht hatten einen herausfordernden Blick, und der kleine herzförmige Mund war zu einem ironischen Lächeln verzogen. Ich war überzeugt davon, dass das Bild eine berühmte Kurtisane darstellte, und konnte nicht begreifen, warum mein Vater es an der Wand hängen hatte. Als ich mich zu einer Frage erkühnte, antwortete er ungewöhnlich scharf: »Das ist eine fromme und vornehme Frau, die um ihres Glaubens willen verfolgt wurde.« Ich war nicht beruhigt. Das Gefühl des Unbehagens wollte sich nicht legen, und jedesmal, wenn ich ins Zimmer meines Vaters gerufen wurde, vermied ich es, den Blick auf das Bild zu richten.
    In der Welt meiner Kindheit repräsentierte die Matronita etwas Fremdes und Bedrohliches. Im Nachhinein kann ich das als Vorahnung deuten.
    Sie, Herr Erßord, der Sie aus der Arbeiterklasse stammen und im Schatten des Großen Krieges aufgewachsen sind, haben sicher keine Vorstellung davon, in welch vorhersagbarer Welt der Sohn eines
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