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Der Spinnenmann

Der Spinnenmann

Titel: Der Spinnenmann
Autoren: Terje Emberland
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erfolgreichen katholischen Textilfabrikanten damals lebte. Alles war fest und unerschütterlich, und mein Lebenslauf war von Anfang an festgelegt. In unseren Kreisen wurde erwartet, dass mindestens ein Kind einen Doktortitel tragen würde, und in meiner Geschwisterschar fiel die Wahl auf mich. Ich wurde deshalb auf das angesehene katholische Piaristengymnasium in unserer Stadt und später zum Studium der Jurisprudenz auf die Universität Wien geschickt.
    Als ich in den Sommerferien des Jahres 1897 zu Hause in Prag weilte, wurde eines Tages an unserer Tür in der Havelchastraße geklingelt. Draußen standen zwei ältere Herren, die in ihren schwarzen böhmischen Bauerntrachten schwitzten. Sie stellten sich vor als Sendboten aus Horitz, der Heimatstadt meines Vaters, und wollten mit diesem sprechen. Mein Vater, Moritz Kubin, war zu diesem Zeitpunkt seit zwei Jahren bettlägerig. Ich erklärte ihnen, in welch gebrechlichem Zustand er sich befand, aber die Männer bestanden auf einem kurzen Gespräch. Ich führte sie in sein Schlafzimmer. Sie verbeugten sich höflich und teilten ihm mit, sie seien gekommen, um die Matronita zu holen. Das von der Krankheit verheerte Gesicht meines Vaters wurde noch bleicher als sonst und er schickte mich aus dem Zimmer. Mit einem Gefühl der Erschütterung, auf das nichts in meinem kurzen und ereignislosen Leben mich vorbereitet hatte, lauschte ich dem Gespräch durch die Tür.
    Was ich hörte, stellte meine Welt auf den Kopf. Nach Wien zurückgekehrt, trat ich aus der Kirche aus und gab die Jurisprudenz auf, um mich Philosophie und Literatur zu widmen. Zugleich durchsuchte ich alles vom Gothaer Adelsalmanach bis zu den böhmischen Kirchenbüchern nach der Wirklichkeit, deren Teil ich nunmehr war. Ich konnte damals nicht ahnen, dass diese mühselige Suche mich viele Jahre später von Angesicht zu Angesicht vor die Person führen sollte, die Sie so treffend mit dem Namen der »Spinnenmann« belegt haben …
     
    Es begann in Vaterland
     
    Zum ersten Mal sah ich ihn an einem grauen und tristen Wintertag vor fast fünfzehn Monaten. Ich kann das Gefühl des Unbehagens, das dieser Anblick mir einflößte, nicht vergessen. Er war ein großer magerer Mann mit Adlernase und ungewöhnlich hoher Stirn. Natürlich ahnte ich noch nichts von den Dimensionen, die die berechnende Bosheit dieses Mannes annehmen konnte, aber ich spürte sogleich das Unnatürliche, das Unmenschliche in seinem Wesen. Das kann an den vielen Anomalien seines Körperbaus gelegen haben, dem schmalen Kopf, den weiblichen Hüften, den Händen, die fast zu lang waren und deren Finger mich an Spinnenbeine erinnerten. Sofort taufte ich ihn den »Spinnenmann«, ohne zu ahnen, wie treffend dieser Spitzname war. Noch ehe das Jahr vorüber war, hatte sein mörderisches Netz ein Dutzend Opfer verschlungen. Und dabei zähle ich nur die offiziell registrierten Todesfälle.
    Im Nachhinein sieht es so aus, als hätte das Ungeheuer sich den prosaischsten Tag des Kalenders für seinen Auftritt ausgesucht. Wie so oft hatte ich mir in einem der Cafés am Lilletorg, dem kleinen Platz am Rande des Stadtteils Vaterland, der zugleich der Markt der Hehler, Schnapsbrenner und Schwarzhändler ist, einen Fenstertisch gesucht. Meine Kollegen von der Hauptstadtpresse belegen den Lilletorg bereitwillig mit großen Worten und nennen ihn Oslos Antwort auf Whitechapel, Vieux Port oder Alexanderplatz. Diese Vergleiche sind nicht ganz vor der Hand zu weisen. Der Lilletorg mit seinem Hinterland aus Gassen und Gängen ist das Verbrecherviertel der Stadt, und Oslo kann mit Verbrechern in allen Kategorien und Größen prunken. Dennoch ist diese Umschreibung des Lilletorg wohl vor allem ein Versuch der Kriminalreporter, ihr Metier zu romantisieren. Man vergisst, dass Norwegens Hauptstadt streng genommen eine zu groß gewordene Kleinstadt und ihr Verbrechermilieu klein und durchsichtig ist. Die wichtigste Aufgabe für uns Presseleute ist es, die Kneipen zu kennen, in denen unsere Klientel sich vor und nach einem Coup trifft. Immer gibt es dort jemanden, der etwas weiß.
    Ehrlich gesagt, hatte ich meinen Job als Kriminalreporter satt. Ich war einundzwanzig Jahre alt und ungeduldig. Auch wenn die Arbeit ein gewaltiges Tempo und ununterbrochenen Einsatz verlangte, wenn ich mit den Kollegen der anderen Zeitungen Schritt halten wollte, reichten die Herausforderungen dennoch nicht aus. Ich träumte oft davon, etwas anderes zu tun. In nüchterneren Augenblicken stellte ich
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