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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Wasser bei Ebbe vom Damm zurückzog und den körnig glitzernden Sand freigab. Erst dann war der Weg auf die Insel frei. »Es ist also nur manchmal eine Insel«, sagte Aoife einmal, sechs Jahre war sie da alt. »Stimmt doch, Mammy, die Insel ist nicht immer eine Insel?« Worauf Gretta sie in den Arm nahm und sagte, wie klug sie sei. Aoife war ein seltsames Kind, immer kam es mit solchen Sachen.
    Die Sommer damals, denkt Gretta, als sie in ihre zweite Scheibe Brot beißt, diese Sommer waren perfekt gewesen. Monica und Michael Francis spielten den ganzen Tag draußen, und als dann Aoife kam, die kleine Aoife in ihrem Bettchen, hatte sie sogar etwas, das ihr in der Küche Gesellschaft leistete, bevor sie hinausging und alle zum Essen rief.
    Nein, mehr als das hätte sie nicht tun können. Und dennoch bekamen ihre Enkel – die beiden Kinder von Michael Francis – später so übertrieben englische Namen. Warum durfte nicht einmal der zweite Vorname irisch sein, hatte sie wissen wollen. Dass sie als Heidenkinder aufwachsen würden, daran durfte sie erst gar nicht denken. Und als sie ihrer Schwiegertochter gegenüber einmal erwähnte, dass es da in Camden diese wunderbare Tanzschule für irischen Volkstanz gebe, lachte die ihr ins Gesicht und sagte nur – Moment, was hatte sie gesagt? »Doch wohl nicht dieses Gehopse, wo man die Arme nicht bewegen darf?«
    Von Aoife will sie gar nicht erst reden. Aoife war nach Amerika abgehauen, rief nie an, schrieb auch nie. Gretta hat den Verdacht, dass sie dort mit jemandem zusammenlebt. Sie weiß es nicht genau, niemand hat ihr Konkretes gesagt, doch einen Mutterinstinkt kann man nicht täuschen. »Lass sie doch in Frieden«, sagt Michael Francis immer, wenn sie ihn über Aoife ausfragen will. Aber sie weiß, das Michael Francis etwas weiß. Wenn überhaupt einer, dann Francis. Trotz des Altersunterschieds steckten die beiden schon immer unter einer Decke.
    Das Letzte, was sie von Aoife gehört hat, war eine Postkarte zu Weihnachten. Wohlgemerkt, eine gewöhnliche Postkarte mit dem Empire State Building darauf. »Herrgott noch mal, ist jetzt schon eine Weihnachtskarte zu viel verlangt?«, rief sie, als Robert ihr die Karte gab. »Sie tut gerade so, als hätte ich mich nie um sie gekümmert.« Fast drei Wochen hatte sie allein an ihrem Kommunionkleid genäht, darin sah die Kleine aus wie ein Engel, das sagten alle. Wenn man sie so sah, damals auf der Kirchentreppe, in ihrem weißen Kleidchen mit den weißen Spitzensöckchen und dem Rundkranz mit Schleier, der im Wind flatterte … wer hätte da ahnen können, dass sie sich einmal so undankbar zeigen würde, so gedankenlos, dass sie ihrer Mutter zum Feiertag der Geburt unseres Jesuskinds gerade einmal eine Postkarte mit einem schnöden Gebäude schicken würde.
    Gretta zieht die Nase hoch, als sie das Messer tief im roten Rachen des Marmeladenglases versenkt. Aoife denkt immer nur an sich, nie an andere. Sogar ihre eigene Schwester sagte damals von ihr: »Sie ist und bleibt das schwarze Schaf der Familie.« Aber darüber war Gretta erst recht böse, und sie fuhr Monica über den Mund. Warum sie nicht endlich einmal ihre blöde Klappe halten könne, sagte sie, obwohl Monica völlig recht hatte.
    Sie bekreuzigt sich und murmelt auf die Schnelle eine Novene für ihre Jüngste, alles unter dem wachsamen Auge Unserer lieben Frau an der Wand. Dann schneidet sie sich die dritte Scheibe ab und sieht dem Dampf hinterher, bis er sich verflüchtigt hat. Sie will nicht länger über Aoife nachdenken, lieber über die vielen schönen Dinge, die es ja auch noch gibt. Vielleicht ruft Monica heute Abend an, Gretta hat ihr gesagt, dass sie ab sechs erreichbar sei. Und Michael Francis hat so gut wie versprochen, ihr am Wochenende die Kinder zu überlassen. Sie will jetzt nicht an Aoife denken, will auch nicht Aoifes Bild auf dem Kaminsims ansehen, das mit dem Kommunionkleid, jetzt erst recht nicht.
    Nachdem sie das Brot zum Auskühlen wieder auf das Abtropfgestell gelegt hat, gönnt sich Gretta einen großen Löffel Marmelade, dann noch einen, sie braucht die Energie. Sie sieht auf die Uhr. Schon Viertel nach sieben, Robert müsste längst wieder da sein. Vielleicht ist er einem Bekannten be gegnet und hat sich festgequatscht. Sie will ihn fragen, ob er sie heute Nachmittag, sobald die Fußballmeute im Stadion ist, zum Markt fahren kann. Sie benötigt so einiges, Mehl zum Beispiel, und ein paar Eier konnten auch nicht schaden. Wohin könnten sie gehen,
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