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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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atmen hören. Er ist ihr so nah, dass er sie beinahe anfassen kann, doch irgendetwas hält ihn ab. Er hat die Hand an der kühlen Aluminiumsprosse, presst sein Gesicht an die Knöchel.
    Am meisten verunsichert ihn, dass in ihrer kleinen Familie nichts von Dauer war. Kaum hat man sich auf eine neue Situation eingestellt, ändert sich schon wieder alles. Auch seine Frau, so kommt es ihm vor, ist bisher ganz anders gewesen. Früher hatte sie immer mindestens ein Kind um sich, wenn er nach Hause gekommen war. Oder sie balgten sich alle drei auf dem Sofa. Oder Claire saß im Garten, mit Hughie auf dem Schoß und Vita am Rockzipfel. Oder morgens, wenn er aufwachte, hatte sich immer ein Kind an sie geklettet und sagte ihr mit schlafwarmem Atem kleine Geheimnisse. Ständig klebte ein kleiner Mensch an ihrer Hand oder an ihrem Ärmel. Er betrachtete sie eigentlich gar nicht als klar definiertes, scharf umrissenes Individuum, eher als Matroschka-Puppe mit aufgemalten Wimpern und spiraligen Locken, die im Kern immer kleinere Versionen ihrer selbst enthielt.
    Zumindest war es bisher so gewesen. Claire gab es nur im Doppel- oder Dreierpack. Vielleicht hatte sie sich ebenfalls so gesehen, als Matroschka, doch das war offenbar vorbei, denn seit Vitas viertem Geburtstag traf er sie immer öfter und für ihn völlig ungewohnt allein an. Allein und in sich gekehrt, etwa in der Küche, wo sie, eine Hand auf den Tisch gestützt, vor sich hin sinnierte. Oder mit leerem Blick am großen Wohnzimmerfenster, mit nichts als der Straße vor Augen. Erst da sah auch er sie als klar definiertes, scharf umrissenes Individuum – nur sie, ohne die Kinder. Hughie und Vita lebten derweil ihr Kinderleben, tobten durchs Haus, steckten heimlichtuerisch kichernd unter einer Decke, kletterten über Mauern oder buddelten im Blumenbeet. Jetzt hätte man eigentlich denken können, sie sei, nach zehn Jahren intensiver Kinderaufzucht, darüber erleichtert gewesen, erleichtert im Sinne von Silberstreif am Horizont, wo wieder ein eigenes Leben lockte. Doch man brauchte in diesen vergrübelten Momenten nur in ihr Gesicht zu schauen, um zu wissen, dass das nicht stimmte. Denn ihre Miene verriet eher vollkommene Ratlosigkeit. Es war die Miene einer Frau, die sich auf einen vorgezeichneten Weg begeben, also eigentlich alles richtig gemacht hatte, und trotzdem irgendwo falsch abgebogen war. Und mit einem Mal auch nicht mehr wusste, wo das große Ziel, für das sie schon so weit gegangen war, eigentlich liegen sollte.
    Er überlegte, wie er ihr gegenüber seine Trauer über das Ende der Kindheit der Kinder zum Ausdruck bringen sollte, er wusste bloß nicht, wie. Wie hatten die Kinder einen ge braucht! Dieses Nähebedürfnis gab es kein zweites Mal. Wie hatten sie aufgepasst, um herauszukriegen, wie etwas gemacht wurde: eine Orange schälen, einen Einkaufszettel schreiben, Schuhe zubinden. Es war geradezu, als wollten sie von ihnen, den Eltern, das Menschsein lernen. Er überlegte, ob er sagen sollte, dass nichts ewig währte im Leben, dass sich genau dadurch jedoch wieder neue Perspektiven eröffneten – alles im Fluss, ständiger Wandel, er könne ein Lied davon singen. Neuerdings war sie nicht mehr in der Küche oder im Wohnzimmer anzutreffen, wenn er nach Hause kam, sondern – unsichtbar – irgendwo im Obergeschoss. Ebenso stand auch das Abendessen nicht auf dem Herd oder garte vielversprechend im Ofen. Außerdem lagen plötzlich seltsame Dinge herum, wie er feststellte. Ein altes Schulheft mit ihrem Mädchennamen in Schönschrift. Ein zerlesenes Exemplar von Madame Bovary auf Französisch mit Claires hochtrabenden Anmerkungen. Ein rotledernes Federmäppchen mit lauter frisch gespitzten Bleistiften. Alle diese Dinge nahm er wägend in die Hand, ehe er sie wieder an ihren Ort legte. Und immer öfter musste er auf die Kinder aufpassen, da Claire abends oder am Wochenende ausging. »Du bist ja eh zu Hause«, sagte sie beim Hinausgehen höchstens, in ihrem Blick – auch das war neu – eine Mischung aus Unsicherheit und Verwegenheit. Eines Nachts merkte er, dass ihre Seite im Bett leer war und machte sich im Dunkeln auf die Suche, rief sogar nach ihr. Ihm antwortete wie aus großer Ferne eine körperlose Stimme. Erst nach ein paar Minuten kam er darauf, dass sie oben auf dem Dachboden war. Mitten in der Nacht hatte sie das Bett verlassen und sich dort oben verschanzt, hatte sogar die Leiter hochgezogen. Was um alles in der Welt machte sie da? Nein, sagte die Stimme
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