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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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sollten, war in diesem Fall ein Märchen. So war es nie gewesen. Hughie kam als Claires Bundesgenosse auf die Welt, als ihr Beschützer und Vollstrecker. Schon als Kleinkind saß er wie ein Hund zu ihren Füßen und lief ihr überallhin nach, neugierig den Kopf zur Seite gelegt, damit er nichts von ihr verpasste, kein Wort, keine Stimmung. Verlangte der Vater aber nach einem sauberen Hemd oder wollte nur wissen, wo das Shampoo abgeblieben war, ging Hughie mit seinen kleinen Fäustchen sofort auf ihn los, denn selbst indirekte Kritik an der Mutter schrie nach Vergeltung. Michael Francis hatte immer gehofft, dass sich dieses Muster mit den Jahren legen würde, aber das tat es nicht. Selbst mit neun sind Hughies Sympathien genauso klar und genauso ungerecht verteilt wie seit jeher.
    »Wo ist Vita?«, fragt er.
    Hughie unterbricht sein Daumenlutschen für die knappe Antwort: »Im Planschbecken.«
    Michael Francis muss seine Lippen anfeuchten, ehe er fragen kann: »Und wo ist Mama?«
    Diesmal nimmt Hughie sogar den Blick vom Fernseher und sieht ihn an. »Auf dem Dachboden«, sagt er deutlich und überpräzise.
    Einen Moment lang blicken sich Vater und Sohn an. Ahnt Hughie, dass er sich genau davor gefürchtet hat, seit das Schultor hinter ihm zufiel? Ein Grauen, das ihn weder in der verschwitzten und überfüllten U-Bahn verließ noch später unter brütender Sonne. Weiß er um seine Hoffnung wider alle Hoffnung, einfach einmal nach Hause zu kommen, und seine Frau steht in der Küche und bereitet gesunde, leckere Mahlzeiten für seine Kinder zu, die gewaschen und proper angezogen am Küchentisch sitzen. Wie viel versteht Hughie von dem, was in der letzten Zeit geschehen ist?
    »Auf dem Dachboden?«
    »Auf dem Dachboden«, bestätigt Hughie. »Sie hat gesagt, sie hat zu tun und dass wir sie nicht stören dürfen, nur wenn einer von uns stirbt.«
    »Verstehe.«
    Er geht weiter zur Küche. Im Ofen: nichts. Dafür liegt auf dem Küchentisch umso mehr herum: eine eingetrocknete Wanne Pappmaché, mehrere Pinsel, die auf der Tischplatte festgeklebt sind, eine aufgerissene Packung Kekse, halbleer, das einzelne Bein einer Puppe, ein mutmaßlich mit Kaffee vollgesogener Lappen. Den Platz in der Spüle teilen sich Teller, Tassen, Becher und ein weiteres Puppenbein. Durch die offene Terrassentür sieht er seine Tochter. Sie sitzt in einem leeren Planschbecken und hält in der einen Hand ein Gießkännchen und in der anderen eine beinamputierte Puppe.
    Er hat jetzt genau zwei Möglichkeiten. Er kann nach draußen gehen, sich Vita schnappen, sie fragen, wie es in der Schule war, und ihr – und sich selbst – etwas zu essen ma chen, vielleicht aus dem Kühlschrank. Vorausgesetzt, es ist etwas im Kühlschrank. Oder er kann nach oben gehen zu seiner Frau.
    Er schwankt, er sieht seine Tochter. Er greift nach den Keksen, stopft sich einen davon in den Mund, dann noch einen, dann einen dritten, ehe er merkt, dass ihm ihre süße Krümeligkeit jetzt nicht schmeckt. Er schluckt sie zu schnell hinunter, und es kratzt im Hals. Dann dreht er sich um und geht die Treppe hoch.
    Auf dem oberen Treppenabsatz versperrt ihm die Dachbodenleiter aus Aluminium den Weg. Die hat er bei ihrem Einzug, kurz nach Hughies Geburt, eigenhändig eingebaut. Heimwerken ist zwar nicht seine Stärke, aber so eine Leiter musste her, weil er sich als Kind immer ein Spielzimmer unterm Dach gewünscht hatte. Einen sicheren Rückzugsort unter dem rohen Gebälk, wo es nach Mäusen und Holz roch. Auch jetzt stellt er sich gern vor, wie das familiäre Gezeter verhallt, sobald er die Leiter hochzieht, die ihrerseits die Bodenklappe schließt. So einen Unterschlupf hatte er sich für seinen Sohn gewünscht. Wer hatte denn ahnen können, dass der kleine Raum einmal ausgerechnet von seiner Frau beschlagnahmt – oder besser: in einer handstreichartigen Operation besetzt werden würde. Die militärische Ausdrucksweise erscheint ihm angemessen, denn dieses Territorium war nie für sie bestimmt gewesen. Statt einer Modelleisenbahn stand dort nun ein überladener Schreibtisch, und statt der gemütlichen Kissengruft war es eine private Bibliothek. Kein einziges Flugzeugmodell hing von den Dachbalken, und es gab auch keine Schmetterlings- oder Muschel- oder Blättersammlung oder was Kinder sonst so horten, nur Taschenbücher und Notizbücher und Aktenordner.
    Er greift nach einer Leitersprosse. Seine Frau ist da oben, direkt über ihm. Wenn er sich konzentriert, könnte er sie sogar
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