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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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von oben, du kannst nicht hochkommen.
    Erst aus einem an sie adressierten Schreiben – sie war wieder einmal nicht da –, erfuhr er, dass sie sich an der Fernuniversität für das Fach Geschichte eingeschrieben hatte. Später, als sie da war, feuerte er den Brief auf den Tisch. Was sollte das? Warum belegte sie diesen Quatsch?
    »Weil ich es möchte«, sagte sie trotzig und drehte am Schulterriemen ihrer Handtasche.
    »Aber warum denn ein Fernstudium?«, fragte er.
    »Warum denn nicht?,« erwiderte sie und knautschte mit blasser, angespannter Miene ihre Tasche noch stärker.
    »Weil du zu gut bist für diese Dünnbrettbohrer, und das weißt du auch. Du hast ein Einser-Abitur, Claire, und bei der Fernuniversität nehmen sie jeden Deppen. Außerdem sind die sogenannten Abschlusszertifikate nicht einmal das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Warum hast du vorher nicht mich gefragt? Wir hätten darüber reden können, anstatt …«
    »Warum ich dich nicht gefragt habe?«, unterbrach sie. »Vielleicht weil ich genau wusste, wie du reagierst.«
    Kurz nach dem Federmäppchen und dem Flaubert tauchten neue Gesichter im Haus auf. Es waren Claires Kommilitonen, und Claire fand das toll, vor allem weil sie praktisch direkt um die Ecke wohnten, so konnten sie sich gegenseitig bei den Seminararbeiten helfen. Michael Francis schaffte es mit Mühe, sich die Bemerkung zu verkneifen, ob er vielleicht nicht dazu befähigt sei, als Geschichtslehrer und so, der sogar einmal eine Doktorarbeit angefangen habe. Aber bald darauf waren es praktisch Dauergäste geworden, die sich überall im Haus mit ihren Arbeitsblättern und Schnellheftern breitmachten und endlos von ihrem erweiterten Horizont faselten. Diese Leute unterschieden sich sehr von Claires früheren Bekannten aus der Mutti-Fraktion, der man am Schultor oder bei Frühstückstreffen der Stadtteilfrauen begegnete. Wo sie auch hinkamen, schufen diese Studiosi ein Klima von überdrehtem Ehrgeiz und Prüfungsangst, und das schmeckte Michael Francis Riordan überhaupt nicht.
    Er atmet tief durch, ehe er die Leiter erklimmt, hinauf in jenes Gewölbe, zu dem er mit der Leiter nicht nur den Zugang geschaffen, sondern das er auch eigenhändig mit Spanplatten ausgebaut hatte, nicht zu reden von tonnenweise Laub, das er vom Dachfenster schaufeln musste. Vor ihm, von unten nach oben, wächst seine Frau in die Höhe: nackte Zehen, die schmalen Fußgelenke, gekreuzte Beine, ihr Hintern auf dem Bürostuhl, ihr gebogener Rücken über dem Arbeitstisch mit den Stellböcken, ihre dünnen weißen Arme, die Hand, die den Stift hält, der abgewandte Kopf. Plötzlich steht er vor ihr und sagt in aller Hilflosigkeit: »Hallo.«
    »Oh, Mike«, kommt von ihr, doch ohne Hinwendung zu ihm. »Ich hab dich schon kommen hören.«
    Dann schreibt sie weiter. Einen Moment lang überlegt er, was dieses »Mike« zu bedeuten hat. Seit Jahren nennt seine Frau ihn Michael Francis, so, wie ihn alle seit frühester Kindheit nennen, nicht nur seine Eltern und Geschwister, sondern auch die weitläufige Verwandtschaft mit ihren Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln. Lediglich bei Kollegen, Freunden und Bekannten, auch bei Zahnärzten heißt er Mike oder Michael, doch die zählen nicht zum engeren Kreis. Wie soll er ihr das jetzt vermitteln? Wie soll er ihr sagen: Bitte, nenn mich Michael Francis, so wie früher.
    »Was machst du?«, fragte er stattdessen.
    »Ich …« Hektisches Kritzeln. »Ich schreibe gerade einen Aufsatz über …« Sie hält inne, streicht etwas durch, schreibt es neu. »Wie viel Uhr haben wir?«
    »Sechs ungefähr.«
    Auf diese Information hebt sie den Kopf, dreht sich aber nicht zu ihm um. »Dann hat es heute wieder länger gedauert?«, murmelt sie.
    Wie ein Gespenst steht plötzlich der Name Gina Mayhew im Raum. Die Augen unter der breiten, hohen Stirn werfen ihm einen letzten höhnischen Blick zu, ehe ihr Geist durch die Bodenklappe verschwindet. Er schluckt, versucht es zumindest. Seine Kehle ist trocken und wie zugeschnürt. Wann hat er zuletzt etwas getrunken? Er weiß es gar nicht. Aber er hat, wie er jetzt merkt, unglaublichen Durst, unerträglichen Durst. Ihm fällt die verbrannte Wiese im Park ein, er könnte jetzt ganze Hydranten leer saufen.
    »Nein, aber …«, würgt er. »Aber am letzten Schultag ist immer noch einmal viel zu tun … und dann hatte auch wieder die U-Bahn Verspätung … du weißt ja.«
    »Die U-Bahn Verspätung?«
    »Ja«, bestätigt er, nickt energisch, auch
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