Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
Vom Netzwerk:
wenn sie ihn gar nicht ansieht, und wechselt das Thema. »Und worüber ist der Aufsatz?«
    »Die industrielle Revolution.«
    »Ah. Interessant. Und welchen Aspekt der industriellen Revolution?« Er tritt einen Schritt vor, um ihr über die Schulter zu sehen.
    »Die industrielle Revolution und das Aufkommen des Mittelstands«, sagt sie und wendet sich ihm zu. Wobei sie aber den Arm über das Geschriebene legt, was in seinem Magen ein schlingerndes Gefühl verursacht, halb Lust, halb Horror über ihre Kurzhaarfrisur. Er hat sich immer noch nicht damit abgefunden und kann ihr auch nicht verzeihen. Als er vor einigen Wochen durch die Tür trat, nicht ahnend, was sich inzwischen dahinter abgespielt hatte, doch im vollen Vertrauen darauf, dass seine Frau genau diejenige geblieben war, die er kannte und schätzte, traf es ihn wie ein Faustschlag: Wo waren die Haare? Dass der blonde Sturzbach einmal nicht mehr da sein könnte, dieses Horrorszenario schien bis dahin völlig abseitig. Die Haare, die wie lichtdurchtränkter Honig auf ihrer Schulter lagen, die Haare, die sich über ihr Kopfkissen ergossen (und über seines), die Haare, die er, zu einem goldenen Tau gebündelt, so gern in die Hand nahm, die Haare, die sie beide wie ein Zelt umschlossen, wenn sie auf ihm ritt. Diese Haare waren das Erste, das ihm, zu Beginn seines Graduier tenstudiums, an ihr aufgefallen war. Es war in einer Vor lesung über das Nachkriegseuropa, und Haare wie diese, ein endloser Strom, fingen die Sonne ein. Solche Haare hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht zu Gesicht bekommen, geschweige denn berührt. In seiner Familie hatten die Frauen braune Haare oder rote, und sie hatten Locken, aber von der krausen, widerspenstigen Art. Haare, die ohne ein ständiges Ringen, ohne Dauerwelle, Pflegespülungen, Klammern und Netze nicht vorzeigbar waren. Fluchwürdiges Haar, über das man klagte und weinte, kein Haar zum Anbeten, kein Haar, das schon im unbehandelten Naturzustand die volle blonde, glatte Pracht entfaltete. Doch als er damals im Türrahmen des Badezimmers stand, die Hausschlüssel noch in der Hand, musste er erkennen, dass die Haare, die er liebte, nicht mehr existierten. Alle grausam gekappt, tot. Die abgeschnittenen Strähnen lagen auf einem Haufen auf dem Boden, und statt seiner Frau stand ein geschorener Junge im Kleid vor dem Spiegel. »Na, was meinst du?«, fragte der Wechselbalg mit der Stimme seiner Frau. »Das ist mal etwas anderes und für den Sommer auch viel praktischer.« Dann lachte der Wechselbalg das Lachen seiner Frau und wurde erst dann nervös, als er sich selber im Spiegel besah.
    Noch jetzt, da seine Frau vor ihm sitzt, empfindet er die abgeschnittenen Haare als großen Verlust und möchte fragen, ob sie sie nicht doch wieder wachsen lassen will und wie lange das dauert und ob sie danach wieder genauso schön sind wie vorher.
    »Und welchen Aspekt der industriellen Revolution genau?«, fragt er stattdessen.
    »Ach, weißt du«, sagt sie und verdeckt die Seite noch mehr. »Verschiedene.«
    Er bemerkt sehr wohl, dass der Hauptaspekt der Stoppelfrisur ein knabenhafter Appeal sein soll. Schelmisch wie die Hauptfigur in diesem Kultfilm über Paris. Nur funktioniert das bei dem runden Gesicht und der flachen Nase seiner Frau nicht. Sie sieht eher aus wie der Insasse einer viktorianischen Krankenanstalt.
    »Du solltest auch unbedingt die Landflucht und die inner staatliche Migration in die Städte erwähnen«, hört er sich sagen. »Und die Herausbildung städtischer Ballungsräume und …«
    »Ja, ich weiß«, sagt sie und beugt sich wieder über den Schreibtisch. Bildet er es sich nur ein oder hat sie soeben mit den Zähnen geknirscht? Lass dir doch helfen, will er sagen, lass es uns wenigstens versuchen. Aber er weiß nicht, wie er das sagen soll, ohne rüberzukommen »wie der letzte irische Torfjörkel«, wie Aoife sich ausdrücken würde. Er wünscht sich etwas, das sie wirklich gemeinsam haben und das sie auch gemeinsam, Schulter an Schulter, durchstehen, früher hatten sie das doch auch.
    »Nicht zu vergessen die Eisenbahn«, hört er sich sagen und das auf seine typische Art, nämlich als Lehrer, als die unangefochtene Autorität im Klassenzimmer. Warum kann er es wenigstens hier, in dieser kleinen Dachkammer, nicht lassen? Er spricht mit seiner Frau, nicht zu einer Klasse. »Die Eisenbahn ermöglichte erstmals den schnellen und bequemen Transport von Personen und Gütern, und natürlich wurde sie von Iren gebaut
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher