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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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wäre nie zurückgekommen.
    Aber jetzt konnte er seine Promotion vergessen. Es war schlicht unmöglich, mit seinem Stipendium auch noch Frau und Kind durchzubringen, deshalb wurde er Lehrer in einer Oberschule am Stadtrand. Er mietete eine Wohnung an der Holloway Road, der Gegend seiner Kindheit, wo er und Claire abwechselnd das Fläschchen für den Kleinen warm machten. Am Wochenende fuhren sie hinaus nach Hampshire und diskutierten endlos über die Frage, ob sie sich von Claires Vater das Geld für ein Reihenhäuschen leihen sollten, also »etwas Anständiges«, denn in so einer Wohnung, das war doch kein Leben.
    Jetzt rührt er mit dem Holzlöffel noch einmal die Pfanne durch und hievt die Nudeln auf zwei Teller.
    Manchmal, wenn er den fernen Blick seiner Frau sieht, fragt er sich, ob sie sich nicht gerade in das Haus träumt, das sie hätte haben können. Irgendwo in Sussex oder Surrey, mit einem Rechtsanwalt als Mann.
    Er achtet darauf, dass die Kringelnudeln in Tomatensoße nicht mit dem Toast in Berührung kommen – Hughie weigert sich, solcherart kontaminierte Speisen zu essen. »Jedes für sich!«, schreit er dann. Vita ist weniger kompliziert, und er schaufelt die Kinderpasta auf die gebutterte Toastscheibe. Sie isst alles.
    Er ist beim Tischdecken, als etwas an sein Bein stößt, etwas Warmes, Kompaktes. Vita. Sie ist vom Garten hereingekommen und rammt ihren Kopf wie eine Ziege gegen seinen Schenkel.
    »Daddy!«, bettelt sie. »Daddy, Daddy, Daddy.«
    Er bückt sich und nimmt sie auf den Arm. »Vita«, sagt er. Für einen kurzen Moment ist er abermals genau der, der er sein sollte: ein Mann in der Küche, der seine Tochter hochhebt. Er stellt die Teller ab, umarmt sein Kind. Er ist erfüllt – wovon? Von etwas, das mehr ist als Liebe, mehr als Zuneigung. Erfüllt von etwas so Elementarem, dass es eher einem animalischen Instinkt ähnelt. Ihn streift der Gedanke, dass er sein Kind schon fressen müsste, um dieses Gefühl irgendwie auszudrücken. Ja, er will seine Tochter verschlingen. Der erste Biss gilt dem zarten Hals, dann schlägt er seine Zähne in diese milchweiß schimmernden Ärmchen …
    Vita wirft den Kopf zurück und zappelt mit den Beinen. Vita war immer schon ein Erdwesen und mag es nicht, getragen zu werden. Sie will festen Boden unter den Füßen haben. Sie hat diese Verankerung in der festen Materie, die Hughie immer abging. Hughie ist ein Luftgeist, haltlos, schwerelos, durchsichtig mit seinen überlangen Flatterhaaren, ein Ariel, ein ätherischer Kobold. Vita dagegen erinnert ihn an Erdbewohner wie Dachse oder Füchse.
    Seufzend setzt er sie wieder auf den Boden, und sie beginnt sogleich damit, um den Küchentisch herumzulaufen und mit wechselnder Betonung in einem fort zu rufen: »Glücklich bis an ihr Lebensende, glücklich bis an ihr Lebensende, glücklich bis an ihr Lebensende.«
    »Vita«, sagt er so gelassen wie möglich. »Bitte, setz dich hin.«
    Hughie kommt in die Küche und lümmelt sich an den Tisch. Er nimmt die Gabel und stochert in seinen Kringelnudeln, die orangefarbene Sauce ist schon kalt. Mit gelangweilter Grimasse angelt er sich erst einen, dann noch einen und noch einen aus der halb geronnenen Sauce, und Michael Francis weiß nicht, wie er reagieren soll. Dass es schon wieder dieses Fertigfutter gibt, tut ihm leid, aber der Junge soll auch endlich mal ordentlich essen.
    Bei ihrem letzten Besuch (und einem Essen wie diesem) bemerkte seine Mutter, dass er für jemanden mit einem Vollzeitjob erstaunlich oft am Herd stehe. Seine Mutter kam alle vierzehn Tage, aber nur auf einen Tee, da sie Claire nicht verdrängen wollte, wie sie sagte. Claire saß im Wohnzimmer und las, aber das mit dem Herd hatte sie gehört. Er merkte es an der Art, wie sie das Buch zuklappte.
    »Vita«, sagt er erneut.
    Doch Vita hört nicht auf. Nackt und schmutzig marschiert sie um den Tisch und kräht: »Glücklich bis an ihr Lebensende, glücklich bis an ihr Lebensende.«
    Hughie schlägt sich an die Stirn und knallt die Gabel hin. »Hör endlich auf mit dem Scheiß«, ruft er.
    »Hör doch selber auf«, schreit sie zurück. »Hör selber auf, hör selber auf, hör selber auf …«
    Bei der nächsten Runde schnappt er sich seine Tochter und hält dieses tretende, kreischende Wesen hoch über seinen Kopf. An diesem Punkt hat er genau zwei Möglichkeiten. Entweder er bleibt streng und besteht darauf, dass sie sich ordentlich hinsetzt – was den Vorteil hat, dass er sich selber ein bisschen
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