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Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman

Titel: Der Sommer, als der Regen ausblieb - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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Abendessen auf ihn warten. Oder nur als verschwitz ten, uncoolen Typen, der zu viele Bücher, zu viel Papierkram in seiner Aktentasche herumschleppt. Ein Mann, längst nicht mehr jung und mit beginnender Glatze, der Schuhe anhat, die eigentlich besohlt, und Socken, die eigentlich gestopft werden müssten. Ein Mann, der unter der Hitze leidet, weil er trotz der Backofentemperaturen zu langer Hose und Krawatte verurteilt ist. Verdammt, wie soll man sich da konzentrieren, wenn die weiblichen Eingeborenen der Stadt sowohl draußen als auch im Büro die knappsten Shorts tragen dürfen, wobei sie die Beine zum Schutz gegen ihn und seinen Blick natürlich kleinlich übereinanderschlagen. Und oben genügt ihnen ein hauchdünnes Top mit Spaghettiträgern als einzige Trennung zwischen der Hitze und ihren Brüsten. Ein Mann, der heim zu einer Frau eilt, die ihn weder ansieht noch anfassen will, einer Frau, deren kühle Gleichgültigkeit ihn in einem subakuten, wenngleich permanenten Angstzustand hält, sodass er weder bei Tag noch bei Nacht echte Ruhe findet.
    Die andere Seite des Parks kommt in Sicht. Er ist fast da. Noch einmal durch die pralle Sonne, dann ist er auf der Straße. Anschließend nur um die Ecke, und das war’s. Er kann bereits die Dächer der Nachbarhäuser sehen. Wenn er sich jetzt auf die Zehenspitzen stellt, sogar das eigene Dach, den Kamin und das Dachfenster, unter dem jetzt – bestimmt – seine Frau sitzt.
    Er wischt sich einen Schweißtropfen von der Oberlippe und nimmt die Aktentasche in die andere Hand. An einem Hydranten hat sich eine längere Schlange gebildet. Etliche Nachbarn stehen dort, die alte Dame vom Ende der Straße sowie einige andere, die er nicht kennt. Die leeren Wasserkanister haben sie neben sich auf den Boden gestellt. Ein paar unterhalten sich, ein oder zwei winken oder nicken ihm beim Vorbeigehen zu. Ihm fällt ein, dass er der alten Dame seine Hilfe anbieten müsste. Es gehört sich einfach, ihr beim Befüllen und Tragen des Kanisters zu helfen, denn sie ist mindestens so alt wie sein Mutter, vielleicht sogar älter. Er sollte es ihr zumindest anbieten, allein schafft sie das nicht. Das Problem ist nur, seine Füße wollen nicht stehen bleiben, er muss jetzt nach Hause, er kann sich keine weitere Verzögerung erlauben.
    Er öffnet das Gartentor, und es kommt ihm vor, als sei er wochenlang nicht zu Hause gewesen. Dazu die Freude, dieses Zuhause sechs Wochen lang nicht mehr verlassen zu müssen. Er liebt nämlich sein Haus. Er liebt die schwarz-weißen Bodenplatten auf dem kurzen Weg durch den Vorgarten, er liebt die orangefarbene Haustür mit den blauen Glasfeldern und dem Löwenkopf-Türklopfer. Wäre er ein Riese, würde er jetzt die mattroten Mauern seines Hauses umarmen. Vor allem die Tatsache, dass er es mit eigenem Geld gekauft hat (und einer heftigen Hypothek) fasziniert ihn ohne Ende. Und natürlich, dass es in diesem Moment die drei Menschen beherbergt, die ihm am meisten bedeuten auf der Welt.
    Er schließt auf, tritt sich die Füße ab, lässt die Tasche auf den Boden fallen und ruft: »Hallo! Ich bin zurück!«
    Einen Moment lang ist er genau der Mensch, der er sein müsste: ein Mann, der von der Arbeit nach Hause kommt, ein Mann, der an der Türschwelle steht und nun seine Familie begrüßen will. Noch gibt es keinen Unterschied, keinen Widerspruch zwischen dem Familienvater, den die Welt zu Gesicht bekommt, und dem Menschen, den er und nur er kennt.
    »Hallo?«, ruft er abermals.
    Das Haus bequemt sich zu keinerlei Antwort. Er schließt die Tür hinter sich und bahnt sich einen Weg durch die Legosteine, Puppenkleider und Puppenstubentässchen im Flur.
    Im Wohnzimmer trifft er auf seinen Sohn, der auf dem Sofa liegt und einen Fuß auf dem Zeitungsständer abgelegt hat. Sein Sohn trägt eine Unterhose und starrt auf den Fernseher, wo eine kastenförmige Kreatur grinsend durch eine gelbe Landschaft spaziert.
    »Hallo, Hughie«, sagt er. »Wie war der letzte Schultag?«
    »Okay«, sagt Hughie, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Mit der anderen Hand zwirbelt er an einer Haarsträhne. Wie immer ist Michael Francis zugleich berührt wie gepeinigt von dieser unheimlichen Ähnlichkeit zwischen seinem Sohn und seiner Frau. Dieselbe hohe Stirn, dieselbe helle Haut, dieselben Sommersprossen rund um die Nase. Aber Hughie war schon immer das Mamakind, ihr Geschöpf. Dass Vater und Sohn allein schon durch das unsichtbare Band der Geschlechtsloyalität aufeinander bezogen sein
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