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Mord ohne Leiche

Mord ohne Leiche

Titel: Mord ohne Leiche
Autoren: Marcia Muller
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    San Quentin steht auf einer
windgepeitschten Landzunge in der Bucht von San Francisco. Es ist zwar ein
Gefängnis, sieht aber auf den ersten Blick gar nicht so schlecht aus: Die sandsteinfarbenen
Mauern und das rote Dach bieten einen imponierenden Anblick. Der
zypressengeschmückte Hügel, an dessen Fuß der Gebäudekomplex stößt, und die
Reihe kräftiger Palmen am Küstenstreifen verleihen der umgebenden Natur einen
gewissen Charme. Das Wasser der Bucht ist blau, grün oder stahlgrau, je nach Wetter,
und gesprenkelt von Segelbooten und schnellen Fähren, die zwischen Marin
County’s Larkspur Landing und San Francisco pendeln. Gar kein so übler Ort.
    Nähert man sich aber den Eisentoren des
Gefängnisses über eine enge, von baufälligen Häusern gesäumte Zufahrt, dann
hört man das Dröhnen der Lautsprecher im Hof und das monotone Summen der
Generatoren, die diese ganze riesige Anlage in Betrieb halten. Man sieht den
Wachturm, das Flutlicht, die Warnschilder und die müde Hoffnungslosigkeit in
den Augen der Menschen, die in Grüppchen durch den Besuchereingang kommen. Der
Wind erscheint einem kälter. Er bringt den Geruch von brackigem Wasser und
unbestimmbarem Verfall mit sich.
    Plötzlich fällt einem auch auf, daß auf
den Ausläufern des Hügels jede gesunde Vegetation fehlt, als hüteten sich sogar
Bäume und Sträucher, dem grimmigen Bau allzu nahe zu kommen. Und man merkt, wie
weit entfernt Point San Quentin doch vom piekfein herausgeputzten Larkspur
Landing liegt, von den Millionärsvillen im nahen Tiburon und Belvedere und von
der Majestät der Rotholzwälder und des Mount Tamalpais. Dafür hat es mehr
gemeinsam mit Richmond, jener Stadt im Nordosten, zu der eine plumpe Brücke
hinüberführt. Sie kann sich ihrer Slums kaum erwehren, zumeist bevölkert von
Schwarzen, die um ihr Dasein kämpfen und oft genug hinter den Mauern dieses
Gefängnisses landen.
    Und an einem dunklen, bewölkten
Wintermorgen, wie dem gegen Ende Dezember, als ich zum erstenmal diesen Bau
besuchte, überfällt einen mit ziemlicher Gewißheit das Gefühl, daß dies ein Ort
des Elends ist, an den nicht selten Menschen zum Sterben geschickt werden.
     
    An jenem Donnerstagmorgen war ich früh
aus der Stadt aufgebrochen und hatte gehofft, um halb neun im Gefängnis zu
sein, aber ein Unfall auf einer der nördlichen Zufahrten zur Golden Gate Bridge
hatte einen Verkehrsstau verursacht. So war es viertel nach neun geworden, ehe
ich am Osttor meinen Ausweis vorzeigen und mich in die Besucherliste eintragen
konnte. Dann passierte ich den Metalldetektor an der Sicherheitskontrolle, und
ein Beamter untersuchte den Inhalt meiner Aktenmappe und meiner Schultertasche.
Im Besuchertrakt setzte ich mich auf eine Bank, die man mir zugewiesen hatte.
    Es war noch so früh, daß sich nur
wenige Leute dort aufhielten. In meinen Augen waren die meisten Anwälte oder
Ermittler, wie ich selbst, und zu Gesprächen mit Gefängnisinsassen hier. Fast
eine Stunde mußte ich warten, ehe meine Genehmigung eintraf, obwohl mein Name
sicher auf der von der Gefängnisverwaltung genehmigten Liste stand. Der Aufsichtsbeamte
trug mein Tonbandgerät in sein Protokollheft für Recorder und Fotoausrüstungen
ein, dann wurde ich in eines der unterteilten Besuchszimmer für Insassen des
Sicherheitstraktes geführt, in dem auch die zum Tode Verurteilten untergebracht
waren.
    Nachdem der Aufseher mich
eingeschlossen hatte, sah ich mich einen Augenblick lang in dem Raum um. Er war
im Einheitsgelbbraun gehalten und in der Mitte durch einen von Wand zu Wand
reichenden Tisch geteilt. Ein schweres Gitter ragte vom Tisch bis zur Decke. Hätte
ich eine Veranlagung zur Klaustrophobie gehabt, hätte mich diese Umgebung
wahrscheinlich gegen die Tür hämmern und um Befreiung flehen lassen. So aber
fühlte ich mich in einem seltsamen Schwebezustand, als sei die Zeit
stehengeblieben und würde auch nicht weitergehen, bis eine ferne, unbekannte
Kraft dies zuließ. Schließlich ging ich zum Tisch, legte meine Aktenmappe
darauf und setzte mich auf einen der drei Holzstühle.
    Nach weiteren zehn Minuten ging die Tür
auf der anderen Seite des Gitters auf, und ein junger Schwarzer in blauer Gefängniskleidung
wurde hereingelassen. Er war schlank, mittelgroß, und sein Gesicht hatte den
Farbton von Zimt. Trotz seiner Jugend — ich wußte, daß er zwanzig war — wich
sein Haaransatz schon zurück. Die kleinen schwarzen Locken formten ein ›M‹ auf
seiner hohen Stirn. Über den
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