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Das kritische Finanzlexikon

Das kritische Finanzlexikon

Titel: Das kritische Finanzlexikon
Autoren: Günter Wierichs
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Vorwort
    Um den Wahnsinn nachzuvollziehen, der sich in unserer Finanzwelt abspielt, benötigt man lediglich einige Zahlen und rudimentäre Kenntnisse im Prozentrechnen.
    Der Wert der globalen Produktion an Gütern und Dienstleistungen (Welt-Bruttoinlandsprodukt) beträgt zurzeit jährlich etwa 70 Billionen US-Dollar. Gleichzeitig vereinigen Banken, Versicherungen, Kapitalanlagegesellschaften, Pensionsfonds, Hedgefonds und finanzielle Zweckgesellschaften Vermögenswerte im Umfang von etwa 200 Billionen US-Dollar auf sich. Würde das globale Bruttoinlandsprodukt auch im nächsten Jahr um 3,7 Prozent (dem bisherigen langfristigen Durchschnitt entsprechend) wachsen, ergäbe sich ein Steigerungsbetrag von 2,6 Billionen Dollar. Auf das Welt-Finanzvermögen bezogen, würde diese Zunahme jedoch lediglich ein Wachstum von 1,3 Prozent bedeuten – viel zu wenig für renditehungrige Kapitalanleger. Wären diese wiederum bereit und willens, sich mit einer der realwirtschaftlichen Wachstumsrate von 3,7 Prozent entsprechenden Rendite zufriedenzugeben, müsste das globale Vermögen um 7,4 Billionen Dollar steigen. Woher soll aber die Differenz von 4,8 Billionen kommen? Aus dem realwirtschaftlichen Erstellungsprozess heraus wären nur 2,6 Billionen zu verteilen, und von dieser Summe würde lediglich ein Teil in die Hände von Kapitalanlegern gelangen. Dies alles lässt nur einen Schluss zu: Die im finanziellen Sektor entstehenden Vermögenszuwächse sind überwiegend virtueller Natur: Sie erheben den Anspruch einer realwirtschaftlichen Fundierung, können diesen indes nicht einlösen.
    Wer auf seinem Depotauszug eine Rendite von 4 oder 5 Prozent bescheinigt bekommt, muss sich also darüber im Klaren sein, dass es sich hierbei um eine künstliche Wertsteigerung handelt – auch wenn das angelegte Geld laut Rechenschaftsbericht der Anlagegesellschaft in »wachstumsstarke Unternehmen« oder »zukunftsorientierte Märkte« oder gar in Sachwerte wie Gold oder Immobilien investiert wurde. Und: ein virtuell aufgeblähtes Vermögens-Plus kann aber ebenso schnell weg sein, wie es entstand. Die 4- oder 5-prozentige Rendite von gestern wird morgen zum »negativen Wachstum«. Besonders ausgeprägt ist dieses Auf und Ab bei den sogenannten innovativen Produkten. Derjenige, der sein Geld zum Beispiel in ein »pfiffiges« Zertifikat steckt, muss wissen, dass er damit eine Wette in Bezug auf Verzinsung und Rückzahlung seines Anlagebetrages abgeschlossen hat, deren Ausgang völlig offen ist. Kapitalzuwächse können auf einen Schlag weg sein, und auch die Rückzahlung des eingesetzten Kapitals steht infrage. Beide Effekte werden durch die neuerdings in immer kürzerer Folge auftretenden monetären Krisen nachdrücklich unter Beweis gestellt.
    Dennoch ist es der Finanzindustrie bislang erstaunlicherweise gelungen, die globalen Vermögenswerte kontinuierlich zu vermehren. Möglich wurde dies, weil eine gigantische Spekulationsmaschinerie angeworfen wurde, die allen Krisen und Unkenrufen zum Trotz immer noch mit Hochdruck läuft und die bislang zwar Umverteilungen bei Vermögenspositionen einzelner Beteiligter bewirkt, aber unterm Strich den gigantischen, weitgehend nicht realwirtschaftlich fundierten Geldvermögensberg von inzwischen 200 Billionen Dollar produziert hat. Im Zuge dieser Entwicklung wurden Kapitalmärkte zu Wettbüros und Banken zu Spielbanken. Der Prozess fortschreitender »financialisation«, jene Dominanz von Einkünften aus Finanztransaktionen gegenüber Einkommen, die aus realwirtschaftlichem Agieren heraus entstehen, wäre indes niemals so erfolgreich verlaufen, hätte die Politik der Branche nicht so kräftig unter die Arme gegriffen. Hilfreich waren insbesondere die Gewährung von Steuervorteilen für Kapitaleinkünfte, eine systematische Deregulierung des Finanzsektors sowie eine primär an den Bedürfnissen von Unternehmen und Besserverdienenden ausgerichtete Wirtschafts- und Sozialpolitik. Diese Maßnahmen gehören zum Standardprogramm eines vor etwa 30 Jahren aufgekommenen neoliberalen Denkens, welches bis zum heutigen Zeitpunkt das Handeln nahezu aller politischen Entscheidungsträger bestimmt.
    Politik, Realökonomie und Finanzökonomie stehen in einer engen wechselseitigen Beziehung zueinander. Einerseits wirken die im modernen Bankwesen anzutreffenden Fehlsteuerungen in unsere gesamten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse hinein; andererseits sorgt eine neoliberale gefärbte Politik für ein schnelleres
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