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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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das der Statue sind untrennbar miteinander verknüpft.«
    Noch immer hielt Aurelio die Mappe in seinen Händen. Er wusste weder wohin mit ihr, noch wohin mit sich.
    »Ich sterbe an dem Tag, den Gott dafür ausgewählt hat«, stellte Michelangelo fest.
    »Nicht, wenn Ihr Euch weigert zu fliehen!«
    »Du solltest gehen, Aurelio. Versuche erst gar nicht, mich umzustimmen.« Endlich erhob er sich von seinem Schemel. »Sieh sie dir an …« Er trat an die Statue heran und blickte in ihr verschleiertes Gesicht. »Niemals könnte ich sie einfach ihrem Schicksal überlassen.«
    Aurelio trat neben ihn. Gemeinsam betrachteten sie die Frau, die wenige Stunden zuvor auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war. Und dann, beim Anblick ihrer zarten Schlüsselbeine, wurde Aurelio klar, dass es auf dieser Welt nichts gab, das seinen Meister hätte umstimmen können.
    »Und ich Euch nicht Eurem«, sagte er.
    Michelangelo wandte ihm den Kopf zu: »Aber …«
    »Ich bleibe bei Euch. Versucht gar nicht erst, mich umzustimmen.«
    * * *
    Als das Gerassel von Schwertern und Pferdegeschirr, vermischt mit dem Klappern zahlloser Hufe, die päpstliche Garde ankündigte, saßen Michelangelo und sein Gehilfe auf ihren Schemeln und betrachteten schweigend die Statue. Unbeirrt trommelte der Regen auf die Schindeln, lief in Rinnsalen über die Dachkante und bohrte Löcher in den lehmigen Boden. Der Tiber war angeschwollen und gurgelte gierig. Abwesend dachte Aurelio an die vielen Stunden zurück, die er und sein Meister hier verbracht hatten, an die ungezählten Nächte, in denen er ihm bei der Arbeit hatte zusehen dürfen.
    Nicht einmal, als das Geklapper und Gerassel zu einer Woge anschwoll und gegen die Mauern des Schuppens schlug, blickten sich Michelangelo und sein Gehilfe an. Sie wussten, was sie erwartete. Zwischendurch hatte Aurelio erwogen, die Statue wenigstens mit Decken zu verhüllen. Doch selbst in Decken gehüllt hätte ihre Präsenz den kleinen Raum dominiert. Ebensogut hätte man versuchen können, das Pantheon unsichtbar zu machen, indem man es mit Tüchern verhüllte. Das Schnaufen im Galopp gerittener Pferde drang herein. Der Geräuschkulisse nach zu urteilen hatte Julius eine Hundertschaft aufgeboten, um einen unbewaffneten Künstler festsetzen zu lassen. Der Papst, der mehr als einmal an der Spitze seines Heeres in die Schlacht gezogen war, der keine Krankheit fürchtete, kein Unwetter und der sich jeder feindlichen Kanone in den Weg gestellt hatte – ein Bildhauer und seine Statue vermochten ihn offenbar in panischen Schrecken zu versetzen.
    Eine eisenbewehrte Faust schlug mit solcher Wucht gegen die Tür, dass das Holz unter ihr ächzte. »Michelangelo Buonarroti!«, tönte es von draußen, »wenn Ihr da drin seid, gebt Euch zu erkennen!«
    Der Künstler machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten.
    »Öffnet die Tür, oder wir brechen sie auf!«, drohte die Stimme. »Der Schuppen ist umstellt!«
    Die Blicke von Michelangelo und Aurelio trafen sich wie auf ein verabredetes Zeichen. Aurelios zeugte von tiefer Zuneigung, von Verbundenheit, von Dankbarkeit und Trauer. Michelangelos von unerfüllter, unsterblicher Liebe.
    »Die Tür ist unverschlossen!«, rief er.
    Ein kurzes Atemholen, dann stürmte ein halbes Dutzend geharnischter Gardisten den Schuppen, die Schwerter gezogen. Kaum jedoch hatten sie ihre tropfnassen Rüstungen in den Raum gezwängt, hielten sie inne, als habe Gott persönlich seinen Bannstrahl auf sie gerichtet. Schließlich klappten zwei von ihnen die Visiere ihrer Helme hoch, um das Wunderwerk in Augenschein zu nehmen, das da vor ihnen im Kerzenschein schwebte. Michelangelo und sein Gehilfe rührten sich nicht.
    »Lasst mich durch!«, krächzte Julius’ schwache Stimme.
    Die zwei Gardisten, die den Eingang blockierten, traten zur Seite. Durch die Stimme des Papstes von ihrem Bannstrahl erlöst, nahmen auch die übrigen an den Wänden Aufstellung. In dieser Situation Julius’ Zorn auf sich zu ziehen hieße den Tod herausfordern.
    Mühsam schob der Papst seine lehmverschmierten Schuhe über die Schwelle. Er ging so gebeugt, dass der Hermelinbesatz seines Umhangs auf dem Boden schleifte. Bei jedem Schritt sank die goldene Spitze seines gefürchteten Stocks zwei Fingerbreit in die Erde ein. Die vergangenen Stunden und Tage hatten ihn dem Tod nahe gebracht. Doch sie hatten ihn nicht vernichtet. Der Anblick der Statue allerdings war mehr, als er verkraften konnte. Wie von einer unsichtbaren Keule in den
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