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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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werden können?«
    »Dieser Starrsinn …«, knurrte Julius müde. »Ihr tut, was ich befohlen habe. Andernfalls wird sich der Scharfrichter Eurer annehmen.«
    »Ihr glaubt, ich fürchte den Tod?« Nun flackerte doch wieder etwas von Michelangelos Kampfgeist auf. Er würde den Tod akzeptieren. Aber nicht als reuiger Sünder, sondern aus eigenem Entschluss. Gott war sein Richter, nicht der Papst.
    Umständlich drehte sich Julius zur Statue um und rammte schwer atmend seinen Stock in den Boden. Noch immer konnte er nicht fassen, dass das diabolische Wesen, das er wenige Stunden zuvor den Flammen übergeben hatte, aus Marmor auferstanden vor ihm schwebte.
    »In der Tat«, sagte er schließlich, »glaube ich das nicht.« Er starrte die Statue an, als erwarte auch er, von ihr ergriffen und zermalmt zu werden. »Wie steht es mit Euch, Aurelio«, ergriff er wieder das Wort. »Seid auch Ihr bereit, Euren Meister sterben zu sehen?«
    * * *
    Drei Gardisten waren nötig, um Michelangelo festzuhalten, während Aurelio das Zahneisen ergriff, das seinem Meister zur Ausformung der Haare gedient hatte.
    »Tu es nicht, Aurelio!«, rief er, und als er seinen Gehilfen vor die Statue treten sah: »Ich verbiete es!«
    Aurelio setzte das Eisen an und hob den Schlägel.
    »Nein!«, rief Michelangelo aus voller Kehle.
    Es ist verrückt, dachte Aurelio. Ich bin nach Rom gekommen, um Bildhauer zu werden, und das einzige Mal, da ich Schlägel und Eisen zur Hand nehme, ist es, um die großartigste Statue zu zerstören, die je ein Mensch geschaffen hat. Er spürte Tränen aufsteigen und schloss die Augen. Dann schlug er zu.
    »Oh Herr«, flehte Michelangelo, »verlass mich nicht!«
    Als Erstes zerfetzte das Zahneisen Aphrodites Wangen. Ihr bloßgelegtes Fleisch flog in Klumpen durch den Raum, die Jochbeine fielen in Stücken zu Boden. Aurelio brach ihr die Nase, hackte sie ab mit einem einzigen Schlag, schlitzte ihre Lippen auf, schlug ihr den Schädel ein, dass große Teile samt der daran befindlichen Haare von ihr herabstürzten. Mit je einem Schlag trennte Aurelio ihre Finger unterhalb der Knöchel von den Händen ab.
    Michelangelos Schreie waren bis auf die andere Tiberseite zu hören. Männer mit alarmierten Gesichtern eilten herbei, machten jedoch auf dem Absatz kehrt, sobald sie die berittenen Soldaten der päpstlichen Garde erblickten. Einige blieben in sicherer Entfernung stehen.
    Unterdessen zerbrachen Aphrodites zarte Schlüsselbeine unter dem geschärften Metall, bohrte sich das Zahneisen durch den Schleier und drang in ihre vollen Brüste ein, schälte ihr die Haut vom Körper bis hinab zu den samtenen Hüften, zerstückelte ihre Scham, zertrümmerte ihre Kniescheiben und fraß sich in ihre grazile Wade, bis das Fleisch in Streifen von den Knochen hing. Als Aurelio endlich bei den Fußrücken angelangt und Aphrodite zur völligen Unkenntlichkeit entstellt war, bedeckten Schweiß und Tränen in dicken Schlieren sein Gesicht.
    Michelangelo hatte den Versuch aufgegeben, seinen Gehilfen abzuhalten. Wehklagend war er auf die Knie gesunken. Die Wachen standen noch neben ihm, hielten ihn aber nicht länger fest. Er hatte die Unterarme in den aufgeweichten Boden gedrückt und verbarg sein Gesicht in den Händen.
    Aurelio ließ Eisen und Schlägel fallen, durchquerte mit raumgreifenden Schritten den Schuppen, griff sich den größten Hammer, der auf der Werkbank zu finden war, lief zur verstümmelten Statue zurück und zertrümmerte ihr mit drei gezielten Schlägen das Sprunggelenk. Einen flüchtigen Augenblick lang schwebte sie noch unschlüssig im Raum, dann kippte sie seitlich um und bohrte sich der Länge nach in den Lehm. Zwei Dutzend weitere Schläge später waren nur noch mauersteingroße Brocken von ihr übrig.
    Im Morgengrauen verließ Papst Julius Caesar II. die Werkstatt hinter der Ripetta. Seine Haltung war noch gebeugter als beim Betreten des Schuppens. Zweimal in derselben Nacht hatte er seine Kurtisane sterben sehen. Aurelio hatte die Statue zerstört, seinem Meister jedoch das Leben gerettet. Michelangelo kauerte tränenüberströmt mit blutigen Händen und Knien in seinem eigenen marmornen Scheiterhaufen.

LXIII
Mein Herz ist krank …
Die Ernte ist vergangen, der Sommer ist dahin …
Ach, daß ich Wasser genug hätte in meinem Haupte und meine Augen Tränenquellen wären …
Verflucht sei der Tag, darin ich geboren bin …
Daß du mich doch nicht getötet hast im Mutterleibe,
daß meine Mutter mein Grab gewesen und
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