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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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Verhältnis dieses Oberschenkels zu dem dazugehörigen Unterschenkel«, er legte seine Hand auf das Gewand des Engels, als wolle er es anheben, »ist missraten zu nennen. Schließlich sind die Falten des Gewandes nicht weit genug ausgehöhlt. Allerdings …« Er holte Luft, wobei seine Nase abermals ein Zischen ausstieß. Seine energische Stirn schien sich für einen Moment zu glätten. »Allerdings erkennt man die Möglichkeit, das Talent, die Gabe. Ein Mann mit solchen Fähigkeiten trägt eine große Verantwortung. Er könnte Ungeheures erschaffen. Für dieses Ding aber sollte er den Allmächtigen um Verzeihung bitten.«
    Aurelio starrte noch immer die halbverhüllte Gestalt an, deren Worte wie Hagelkörner auf ihn niederprasselten, als sich Schritte näherten. Zwei Männer kamen durch das Seitenschiff. Die Silhouette des größeren erkannte Aurelio sofort.
    »Vater!«
    Aus seiner Starre erlöst, rannte der Junge über die Steinplatten und klammerte sich erleichtert an Tommaso.
    »Hier also steckst du.«
    Zwei Hände ergriffen ihn unter den Achseln und hoben ihn mühelos empor. Unwillkürlich ertastete die Hand des Jungen die Stelle an Tommasos Hals, die immer warm war und wo unter der Haut das Blut pulsierte.
    »Da ist ein Engel«, setzte Aurelio an, »ein echter Engel … Und dieser Mann, der …«
    Die Worte waren schneller aus ihm herausgesprudelt, als seine Gedanken zu folgen vermochten. Jetzt wusste er nicht mehr, was er hatte sagen wollen.
    »Was für ein Mann?«, fragte Tommaso ruhig.
    »Da!«
    Aurelio deutete in Richtung der Statue, doch der Fremde war verschwunden.
    »Sicher der junge Buonarroti«, sagte Tommasos Begleiter.
    Er trug einen schweren, edlen Umhang, und seine Schnürstiefel waren mit goldenen Spangen verziert, die im Halbdunkel glänzten wie polierte Münzen.
    »Der junge Buonarroti?«, wiederholte Tommaso.
    »Ein Günstling der Medici«, erklärte der Mann mit den Spangen an den Schuhen. »Letztes Jahr, bevor es zum Aufstand kam, ist er aus Florenz geflohen. Er hatte Angst, seine Nähe zu Piero könnte ihm gefährlich werden. Er nennt sich Bildhauer. Ein komischer Kauz, der viel von sich reden macht. Noch kein halbes Jahr ist er in Bologna und nimmt sich heraus, Aufträge abzulehnen, nach denen sich jeder andere Künstler in der Stadt die Finger lecken würde. Dabei ist er gerade einmal zwanzig Jahre alt. Wahren Geschmack, sagt er, könne man nur an drei Orten in Italien finden: Venedig, Rom und Florenz.«
    »Aber was hat er gegen den Engel?«, fragte Aurelio.
    Tommasos Begleiter warf Aurelio einen fragenden Blick zu. »Weshalb sollte er etwas gegen den Engel haben?«
    »Er hasst ihn.«
    Der Mann betrachtete nachdenklich den Kandelaberengel. »Dann hasst er vermutlich sich selbst. Schließlich hat er ihn aus dem Marmor gemeißelt.«
    * * *
    Am nächsten Morgen kehrten Tommaso und Aurelio Bologna den Rücken und fuhren auf der Via Aemilia, der alten Römerstraße, zurück Richtung Forlì. Die Ausläufer des Apennin lagen zu ihrer Rechten, die schneebedeckten Kuppen steckten in einem Band aus dichten Wolken. Der Karren war leicht, jetzt, wo er die Last der Fässer nicht mehr tragen musste. Die frisch beschlagenen Räder drehten sich knirschend im Schnee. Aurelio saß, umhüllt von zwei Decken, neben seinem Vater. Tommaso hatte ihn eingewickelt wie in einen Kokon. Lediglich die obere Gesichtshälfte seines Sohnes war noch zu sehen. Aurelios Ohren glühten vor Wärme. Tommaso war zufrieden. Wie jedes Jahr hatte sich die lange Reise nach Bologna gelohnt. Die Familie Aldrovandi hatte ihm für den Wein und das Öl einen Preis bezahlt, den er in Forlì niemals erzielt hätte.
    Nach und nach schläferten das gleichmäßige Ruckeln des Karrens und das Klappern der Hufe Aurelio ein. Er legte sich auf die Seite, den Kopf auf dem Bein seines Vaters. Das ist der schönste Tag meines Lebens, dachte er bei sich. Tommasos Hand ruhte auf der Schulter seines Sohnes. Aurelio schloss die Augen, dachte an die merkwürdigen Worte des seltsamen Herrn Buonarroti und an den Engel, der sich ihm für den Rest seines Lebens ins Gedächtnis gebrannt hatte.

Teil I
    I
    März 1508
    Sie kamen, ohne viel Aufhebens zu machen, gegen Mittag. Italienische Söldner. Gelangweilt schlenderten sie zwischen den beiden Zypressen hindurch, die die Grenze des Lehens markierten, und folgten dem Weg in die Senke mit den Olivenbäumen. Wie Krähen ließen sie sich nieder, lautlos, einer nach dem anderen, bis plötzlich die Wiese von
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