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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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Tommaso seinem jüngsten Sohn mit auf den Weg gegeben hatte, letztes Jahr, auf dem Sterbelager. Für beide von uns . Aurelio hatte es den anderen verschwiegen. Er hatte den Tod seines Vaters nicht benutzen wollen, um seiner Familie den Rücken zu kehren. Vielleicht aber, so dachte er jetzt, hatte Tommaso recht gehabt. Es war wohl an der Zeit, zu gehen. Nachdem die Söldner weitergezogen waren, war ihm die Rückkehr ins Haus unmöglich gewesen. Der Anblick der achtlos vom Tisch abgerückten Schemel, die erloschene Feuerstelle, das Schlaflager von Tommaso und Antonia, sein Lieblingsbecher … Er hatte sich gerade noch schnell genug abwenden können, um sich nicht in den Wohnraum zu übergeben.
    »Er hat mir aufgetragen, dich fortzuschicken, wenn du nicht von selbst gehst«, erklärte Matteo. »Ich bin froh, dass du es nicht so weit hast kommen lassen.«
    Aurelio zweifelte daran, dass sein Bruder ihm die Wahrheit sagte. Doch er hielt ihm zugute, dass er ihm den Abschied erleichtern wollte.
    »Was wird aus dir?« Fragend sah er ihn an. »Und aus Giovanna und Luigi?«
    »Ich werde einen neuen Stall bauen. Was sollte ich wohl sonst tun?«
    Giovanna kam aus dem Haus. Wie immer hielt sie Luigi auf dem Arm, der schon jetzt wie ein kleiner Matteo aussah. Sie hatten Saatgut und frisches Mehl mitgebracht.
    »Hier«, mit ihrem freien Arm drückte sie Aurelio an sich und reichte ihm ein verschnürtes Tuch.
    Aurelio ertastete drei frische, noch warme Brotlaibe.
    »Für den Weg«, sagte Giovanna fast entschuldigend.
    Aurelio betrachtete das, was ihm von seiner Familie geblieben war: seinen Bruder, Giovanna, Luigi. Sie würden zurechtkommen. Es stimmte, was ihm Tommaso auf dem Sterbelager gesagt hatte: Matteo war ein guter Bauer, und Giovanna alles, was man sich von einer Frau wünschen konnte. Er und sein Bruder sollten einander nicht im Weg stehen.

II
    Der Wind hatte gedreht. Er kam jetzt aus Westen und blies die kalte Luft von den Bergen herunter. Bereits in der Nacht hatte Aurelio, der in Decken gehüllt hinter dem Brunnen geschlafen hatte, ihn durch die Ritzen des Hauses pfeifen hören. Er zog seinen Umhang enger, schulterte den Sack mit seinen Habseligkeiten und folgte dem Weg hinunter in die Senke mit den Olivenbäumen. Bei den Bauern in der Gegend hatte der Olivenhain seiner Familie den spöttischen Beinamen »i nebulosi« eingetragen, »die Umnebelten«, weil sich dort manchmal ganze Tage lang der Nebel hielt. Dann wurden aus den Bäumen geisterhafte Fabelwesen, die aus dem Nichts kommend plötzlich ihre Arme nach einem ausstreckten und Aurelio bis in die Träume seiner Kindheit hinein verfolgt hatten. Dafür gediehen in dieser Senke, wie Tommaso stets behauptet hatte, die saftigsten und aromatischsten Oliven zwischen Imola und Bologna.
    Heute Morgen jedoch war die Luft von schneidender Klarheit. Der Westwind hatte jeden Rest von Nebel vertrieben, und die Tautropfen an den Grashalmen glitzerten im ersten Tageslicht wie Diamanten. Kaum hatte Aurelio die Senke durchquert und die beiden Zypressen passiert, sah er auch schon in der Ferne den Umriss des hochaufragenden Campanile von Forlì sich gegen den blassrosa Himmel abzeichnen. Bei Ostwind hätten sie die Glocken bis zu ihrem Hof hin läuten hören. Als später die mächtige Zitadelle, von einem rötlichen Strahlenkranz umgeben, in Aurelios Blickfeld rückte, hielt er kurz inne. Noch heute sprachen die Leute, wenn auch hinter vorgehaltener Hand, in ehrfürchtigem Ton davon, wie Caterina Sforza ein ums andere Mal die Armee Cesare Borgias zurückgeschlagen hatte – bis jeder Widerstand zwecklos geworden war.
    Die Piazza Saffi war bereits von morgendlichem Leben erfüllt. Zwei Männer wurden von einer belustigten Menge dabei beobachtet, wie sie versuchten, einen störrischen Bullen über den Platz zu zerren; vor der noch verschlossenen Werkstatt des Scherenmachers peitschten drei Kinder einen Holzreifen über das Pflaster; eine Gruppe von Frauen stand, ihre Waschkörbe vor sich auf dem Boden, am Brunnen und schwatzte. Aurelio hatte diesen Ort immer gemocht: die Menschen, die Geräusche der Stadt, das Leben, das so viel größer war als er selbst. Doch heute, das spürte er, würde er hier nicht einmal für die Dauer eines Ave Maria zur Ruhe kommen. Als die Glocken zur Tertia läuteten und der halsstarrige Bulle sich losriss, um schnaufend über den Platz zu galoppieren und unter den Flüchen seiner Verfolger in einer Seitenstraße zu verschwinden, ging Aurelio zur Gruppe
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