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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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der Wäscherinnen. Dort erkundigte er sich nach dem Weg zur alten Römerstraße, schulterte seinen Sack und eilte aufrecht dem Stadttor, der Sonne und seinem neuen Leben entgegen.
    Alles um ihn herum roch nach Aufbruch. Pflanzen, die ihn sein ganzes Leben umgeben hatten, verströmten einen Duft, der ihn schwindeln machte. Der Geruch der violett blühenden Rosmarinsträucher etwa oder die in der Morgensonne schwellenden Piniennadeln. Selbst das alte Straßenpflaster, das erst seine feuchte Haut abstreifte, um sich anschließend so schnell zu erhitzen, dass Aurelios Füße bald von unten gewärmt wurden, verbreitete einen Geruch, der ihm wie eine Verheißung erschien und ihn unwiderstehlich vorwärtszog.
    * * *
    Am Nachmittag des ersten Tages begegnete er einem verwitweten Vinattiere, einem verängstigten Mann mit Trinkernase, der durch seinen Buckel noch kleiner wirkte, als er ohnehin war. Er stand neben seinem mit Fässern überladenen Wagen, betrachtete ratlos die gebrochene Deichsel und hielt Aurelio zunächst für einen Wegelagerer. Der jedoch besah sich den Schaden und verschwand im Gebüsch, um kurz darauf mit einem Ast von der Dicke eines Unterarms zurückzukehren.
    Der Vinattiere näherte sich wie ein scheues Tier. »Was habt Ihr vor?«, fragte er, als Aurelio begann, den Ast mit seinem Messer zu bearbeiten.
    »Ich schnitze Euch eine neue Anze«, gab Aurelio zurück.
    Der Vinattiere reckte seinen Hals, als werde er Zeuge eines Wunders: »Ah.«
    Sobald er seine Fahrt fortsetzen konnte, hatte sich das Selbstbewusstsein des Mannes plötzlich vervielfacht, und er schien um eine Handbreit gewachsen zu sein. »Ihr seid heute mein Gast«, erklärte er, »keine Widerrede.«
    Den folgenden Tag verbrachte Aurelio mit einem Kopf, der ihm mit jedem Schritt schmerzhaft die ungezählten Sester Wein in Erinnerung rief, die der Vinattiere ihm aufgenötigt hatte, kaum dass sie dessen Haus erreicht hatten.
    Umso größer war die Erleichterung, als am Nachmittag endlich die Silhouette von Rimini in der Ferne auftauchte. Sobald er sich innerhalb der Stadtmauern befand, kehrte er im ersten Gasthof ein, den er fand. »Die Ähre« bestand im Wesentlichen aus zwei Räumen. Im vorderen wurde den Gästen an langen Tischreihen das Essen vorgesetzt, im hinteren schliefen sowohl Mensch als auch Tier, wobei die Pferde, Ochsen und Maultiere in der Mitte des Raumes an Tröge angebunden wurden, während ihre Besitzer auf einem die Wände säumenden Podest nächtigten, eine Armeslänge von ihren Tieren entfernt.
    Der schwere Geruch von lebendem und gebratenem Fleisch füllte beide Räume bis in den letzten Winkel. Während des Essens konnte Aurelio kaum die Augen aufhalten. Die Gespräche um ihn herum schlugen wie Wellen über ihm zusammen. Als er mit erschöpftem Lächeln zum wiederholten Male den Wein ablehnte, den die Wirtin stets vor seinem Platz abstellte, zwinkerte sie ihm zu, als teilten sie eine stumme Übereinkunft. Später, die Müdigkeit drückte ihm bereits die Lider zu, zeigte sie ihm sein Lager. Da er kein Tier bei sich führte, wies sie ihm eine Stelle in der hinteren Ecke zu, abseits der Tiere. Anschließend rollte sie eine frische Matte für ihn aus, damit er, wie sie mit einem zweiten Zwinkern erklärte, keine »ungebetenen Besucher« fürchten müsse. Auf die Frage, was er ihr schuldig sei, erhielt Aurelio ein weiteres Augenzwinkern sowie die Antwort, seine Schuld sei bereits von höherer Stelle beglichen worden. Ihrer. Er schlief bis zum Morgen und hatte nicht die geringste Erinnerung an die Nacht.
    * * *
    Am Morgen des dritten Tages ließ Aurelio Rimini hinter sich. Er ging jetzt auf der alten Via Flaminia, die, so viel konnte er auf den römischen Meilensteinen entziffern, von Arminium nach Roma führte. Bis zum Ziel seiner Reise würde er diese Straße nicht mehr verlassen. Er tastete nach dem Beutel mit den Münzen, den er sich unter seinem Hemd um die Brust geschnürt hatte. Noch keinen einzigen Grosso hatte er ausgegeben, obwohl er zwei bequeme Nachtlager erhalten hatte und gut bewirtet worden war.
    Der Meilenstein, eine Säule aus übereinandergeschichteten Steintrommeln, die früher um die sechs Ellen hoch gewesen sein musste, lag umgestürzt im Graben, die einzelnen Teile durcheinandergewürfelt. Eine Eidechse verkroch sich träge zwischen den Blöcken, als Aurelio sich auf einer der Trommeln niederließ. Er setzte den Sack im Gras ab, zog seine Schuhe aus und bewegte die Zehen in der Mittagssonne. Als Kind hatte
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