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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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ihn unverhohlen musterte. »Certo«, antwortete er, sicher.
    Wieder hob sie ihre Arme und führte die Hände hinter den Kopf. Das konnte kein Zufall sein. Sie wusste um die Wirkung dieser Geste, musste darum wissen. Eine Strähne glitt über ihre Schulter.
    »Hör zu«, sagte sie nach einer Pause, »du und ich, wir haben … nun, wir haben vermutlich nicht dasselbe Ziel«, sie ließ ein helles Lachen hören, »aber wir haben denselben Weg. Fünf Grossi, und der Platz neben mir ist deiner.«
    Fünf Grossi! Beinahe die Hälfte dessen, was er dem Schuhmacher in Forlì gezahlt hatte. Aurelio nahm einen Schuh und zeigte ihn vor. »Aber ich hab doch meine Schuhe«, sagte er.
    Die Frau ließ die Arme sinken. »Aber er hat doch seine Schuhe«, wiederholte sie.
    »Mit denen brauche ich keine zehn Tage«, bekräftigte Aurelio.
    »Zehn Tage.«
    »Höchstens.«
    Die Frau richtete sich auf. Danach war auch der letzte Rest Freundlichkeit aus ihrer Stimme gewichen. »Na, dann laufe er eben!« Sie wandte ihren Blick nach vorn und ließ die Zügel schnalzen, worauf sich die Maultiere pflichtschuldig in Bewegung setzten.
    Aurelio wartete, bis der Wagen aus seinem Sichtfeld entschwunden war, dann zog er seine Schuhe an und folgte ihm.

III
    Ihr Wagen stand zwischen denen der anderen Gäste auf dem gestampften Platz neben dem Gasthaus. Für einen Moment erwog Aurelio, an »La Campana«, der Glocke, vorbeizugehen. Die Begegnung vom Mittag hatte ihn in einen Zustand nervöser Erregung versetzt, der ihn noch Stunden später nicht verlassen hatte. Ohne es erklären zu können, hatte er sich in Gegenwart der Frau wie ein Kind gefühlt, das bei etwas Verbotenem ertappt worden war. Doch Hunger und Müdigkeit waren größer als der Wunsch, ihr nicht noch einmal zu begegnen. Außerdem brach bereits die Dunkelheit herein, und der Wind trug eine kalte, salzige Luft vom Meer herüber. Den Weg fortzusetzen hieße womöglich, unter freiem Himmel schlafen zu müssen und Knoten in der Lunge oder gar die Skrofulose zu riskieren, die man davon angeblich bekommen konnte.
    Aurelio hörte sie, bevor er sie sah. Ihr helles Lachen übertönte mit Leichtigkeit die Rufe und das Gemurmel der übrigen Gäste. Vorsichtig wagte er einen Blick in das Zimmer hinter der Feuerstelle. In diesem Raum saßen zumeist eine Frau und ein Mann zusammen. Sie hatte ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die sich kunstvoll um ihren Kopf schlangen. Ihr überlebensgroßer Schatten tanzte an der Wand. Hier, im hinteren Gastraum der »Glocke«, irgendwo zwischen Porto del Colombarone und Pesaro, war sie unbestreitbar die Königin. Der Mann zu ihrer Rechten saß auf der Bank wie auf einem Pferderücken und redete mit den weit ausholenden Gesten eines Lehnsherren auf sie ein.
    Aurelio zog sich in den Vorraum zurück und bat um Essen und ein Nachtlager. Er hatte noch nicht viel von der Welt gesehen, aber genug, um zu wissen, dass er nicht fürchten musste, ihr heute noch im Schlafsaal für das einfache Volk zu begegnen.
    * * *
    Er lag auf dem Rücken, den Blick auf die Deckenbalken über sich gerichtet, und lauschte dem Gesang der Vögel. Die ersten Stunden des Tages waren ihm stets die liebsten: das Erwachen, das erste Licht, die zarten Gerüche, der Beginn des Neuen. Er hatte den Geschmack von Salz auf der Zunge. Das Meer konnte nicht weit sein. Doch sein Ziel lag in einer anderen Richtung: im Süden. Lautlos packte er seine Sachen und verließ den Gasthof.
    Ihr Wagen nahm in der Dämmerung gerade erst Gestalt an, und als Aurelio eine Viertelmeile gegangen war und sich noch einmal umdrehte, war die »Glocke« nicht mehr als die Erinnerung an einen bereits verblassten Traum.
    Drei Meilen später begann die Sonne, seinen Nacken zu kitzeln und seinen Rücken zu wärmen. Wie jeden Morgen war Aurelio in Gedanken bei seinem Vater. Keiner von ihnen, nicht einmal Tommaso selbst, hatte seinen Tod begreifen können. Zunächst hatte er sein Augenlicht verloren. Aurelio war es als Erstem aufgefallen. Sein Vater wollte die Leiter zum Schlaflager hochsteigen, die Matteo mittags nach draußen getragen hatte, um eine undichte Stelle im Dach zu reparieren. Seine Hand tastete in der Nische nach der Leiter, und plötzlich wurde Aurelio klar, was ihm an seinem Vater seit einiger Zeit so merkwürdig erschienen war.
    »Vater, du siehst nicht mehr richtig.«
    Der gesamte Wohnraum erstarrte. Lediglich das brennende Holz in der Feuerstelle ließ weiter Schatten über die Wände tanzen. Antonia hielt die
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