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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel
Autoren: Leon Morell
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Tommaso ihm erklärt, was es mit den Inschriften auf sich hatte, die in die Säulen eingraviert waren. Auf jedem Meilenstein stand der Name seines Erbauers, von wo nach wo die Straße führte und wie weit es bis nach Rom war. Tommaso hatte ebenso wenig lesen können wie Aurelio, doch er kannte das römische Zahlensystem und erklärte seinem Sohn, wie man es entzifferte.
    Die Inschrift der Trommel war verwittert. Aurelio erkannte Buchstaben, die sich zu Wörtern zusammensetzten, andere standen für Ziffern. Er musste halb unter den Stein kriechen, um sie vollständig aneinanderzureihen. CCIII. Zweimal hundert und drei. Zweihundertdrei Meilen. Aurelio überlegte: Wenn er pro Tag zwanzig Meilen zurücklegte, wäre er in zehn Tagen in Rom. Er schloss die Augen und spürte die Wärme auf seinem Gesicht. Nur zehn Tage noch! Er nahm seine Schuhe aus dem Gras und stellte sie auf den Stein.
    Neben seinem Messer und den zehn Dukaten und sechs Grossi, die ihm noch verblieben waren, stellten die Schuhe Aurelios kostbarsten Besitz dar. Er hatte lange gezögert, ehe er sie nach Tommasos Tod beim Calzolaio in Forlì in Auftrag gegeben hatte. Dabei wäre er beinahe der Versuchung erlegen, sich ein Paar Kuhmaulschuhe anfertigen zu lassen, wie sie in der Stadt seit einiger Zeit immer häufiger zu sehen waren. Aurelio gefielen die modischen Schuhe sehr, auch wenn Matteo meinte, sie sähen aus, als sei ihren Besitzern der Campanile auf die Füße gefallen. Doch dann erinnerte er sich der Worte seines Vaters, dass er niemals vergessen solle, wer er war und woher er kam, und er entschied sich für ein Paar Bauernschuhe – allerdings nicht ohne beim Schuhmacher eine doppelte Sohle in Auftrag zu geben und ein besonders dickes, aber geschmeidiges Leder sowie eine Schnalle auszuwählen, wie sie auch bei den modischen Schuhen zu finden war. Um sie zu bezahlen, hatte Aurelio beim Geldwechsler in Forlì die kostbaren zwölf Fiorini, die Tommaso ihm auf dem Sterbelager gegeben hatte, in Dukaten umgetauscht und dem Schuhmacher mit schweißnassen Händen die vereinbarte Summe von einem Dukaten und vier Grossi auf die Werkbank gezählt.
    Er nahm einen Schuh und drehte ihn in den Händen. Die Schnalle funkelte stolz in der Sonne. Mit diesen Schuhen, dessen war er sich sicher, würde er den Weg nach Rom in nur acht Tagen bewältigen.
    »Er wird dich doch wohl nicht vergessen haben?«
    Aurelio musste eingenickt sein. Er hatte den Wagen nicht kommen hören. Im Gegenlicht erkannte er den Umriss einer Frau, die keine Kopfbedeckung trug und deren nachlässig hochgesteckte Haare leuchteten wie ein brennender Helm. Ihre Stimme war fest und freundlich. Und sie war allein.
    Aurelio nahm seinen Schuh aus dem Schoß und stellte ihn zu dem anderen zurück. »Wer?«
    »Der Engel, der dich abholen sollte.«
    Aurelio war zu überrascht für eine Antwort.
    »Du siehst aus, als wartetest du auf einen Engel, der dich abholt«, erklärte die Frau.
    Noch immer fiel Aurelio keine Antwort ein. Was sollte er schon sagen? Dass er verstanden hatte, was sie meinte, aber nichts zu erwidern wusste?
    »Wie wär’s mit deinem Namen, kleiner Engel?« Sie schien seine Gedanken zu lesen. »Oder hast du keinen?«
    »Doch«, gab Aurelio zurück.
    »Und?« Eines ihrer Maultiere wackelte geduldig mit den Ohren. »Gibst du ihn auch preis?«
    Aurelios Befangenheit verstärkte sich noch, als sie ihre Arme über den Kopf nahm, um ihren Haarknoten zu lösen. Das blonde Haar ergoss sich in sanften Wellen über ihre Schultern. Hätte sie das auf dem Markt in Forlì gemacht, wäre kein Mann auf dem Platz gewesen, der sich nicht den Hals verreckt hätte. Er selbst eingeschlossen.
    »Aurelio«, stieß er hervor.
    »Aurelio also, schön, schön«, sagte sie, als sei der Name ganz zu ihrer Zufriedenheit.
    Aurelio überlegte, was sie wohl als Nächstes von ihm würde wissen wollen. Er musste nicht lange warten, um es herauszufinden.
    »Und wohin wird seine Reise ihn wohl führen, den Herrn Aurelio?«
    »Nach Rom«, gestand er. Sein Plan erschien ihm nach wie vor anmaßend.
    »Hört, hört. Nach Rom also.«
    Aurelio schwieg. Ihre Fragen waren keine richtigen Fragen, jedenfalls wusste er nichts auf sie zu antworten. Und irgendwie schien die Frau an Antworten auch nicht interessiert zu sein.
    »Und wie gedenkt er, dorthin zu gelangen? Auf Schusters Rappen?«
    Aurelio schirmte seine Augen ab, um sie besser erkennen zu können. Sie hatte ein ovales Gesicht und einen herausfordernden Blick, mit dem sie
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